zum Hauptinhalt
Musiker spielen vor einem Wahlplakat der BJP.

© AFP

Schulbuch-Razzia: Weg mit der Wirklichkeit

Indiens Schulbehörde bereinigt Lehrbücher: Nur noch Hinduismus soll Relevanz beanspruchen. 

Eine Kolumne von Caroline Fetscher

Aus Familien kennt man den Drang zur Bereinigung von Biogrfhien. Mitunter zetteln Angehörige eine regelrechte Archivrazzia an. In den Schredder mit den ollen Briefen zum Erbstreit! Fort mit dem Foto des Onkels in dieser unschönen Uniform!

So füllen sich Abfallcontainer mit Material, das Wirklichkeit abbilden, Wissen schaffen, Gewissheiten schenken und Gewissen stärken könnte. Stattdessen finden sich Bilder in Goldrahmen, unlebendig, unwahr, ohne Kratzer und Sprünge.

Nicht nur Kleingruppen tendieren zur Anpassung von Gewesenem an die Bedürfnisse der Gegenwart. Öfter löschen auch Großgruppen Phasen und Fakten der Geschichte, etwa um hegemoniale Ansprüche zu legitimieren.

Mit Schwung dabei sind Indiens Hindunationalisten. Der regierenden Partei BJP geht es um ihre Ideologie „Hindutva“, die autoritäre Suprematie des Hindu-Nationalismus. Neueste Volte ist das Umschreiben von Schulbüchern.   

Aus Rücksicht auf die Schulkinder, die in der Pandemie viel Unterricht versäumt haben, so das Argument der Bildungsbehörde, sei der Lernstoff in Geschichte, Politik und Soziologie „gekürzt“ worden.

Freilich fallen die Kürzungen zugunsten von „Hindutva“ aus. Von Gandhis Aufruf zur Gewaltfreiheit und seiner Vision der Einigkeit von Hindus und Muslime ist nicht mehr die Rede. Gandhis Attentäter, ein extremistischer, hinduistischer Brahmane, wird nur noch als „ein junger Mann“ bezeichnet.

Zur Ära der muslimischen Mogulkaiser findet sich kein Wort mehr, und dass der Bauherr des Taj Mahal ein Moslem war, bleibt unerwähnt. Muslimische und britische Kolonialgeschichte werden weitgehend ausgeblendet.

Kritiker beklagen eine „Gehirnwäsche“ der Gesellschaft, auch durch das Umbenennen von Städten, Bahnhöfen und Denkmälern. Indiens 200 Millionen Muslime und 27 Millionen Christen sehen sich zunehmend diskriminiert.

Hellsichtig beschrieb der indische Psychoanalytiker Sudhir Kakar („Die Gewalt der Frommen“, 1997) die Gefahren spaltender Dynamik. Das Sabotieren von Geschichtsbewusstsein, das Amputieren von Fakten führt nicht nur in Familien zu Tabus, Schweigekartellen, Ausgrenzungen und Wiederholungszwang.

Gleiches gilt für Großgruppen. Geschichte lässt sich nicht eliminieren. Schützt und schätzt man aber ihre Quellen und Zeugnisse, lässt sich laufend neu aus ihr lernen.  

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false