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Kultur: Sex mit Kapuze

Theatertreffen: „Allein das Meer“ aus Halle

Nadia, eine bis zur Schmerzgrenze sanftmütige Frau (Danne Hoffmann), stirbt an Krebs. Ihr Sohn Rico (Yves Hinrichs) bricht zu einem Selbstfindungstripp in die Berge auf, während seine daheim gebliebene Freundin Dita (Carmen Birk) merkwürdigerweise bei seinem Vater einzieht. Natürlich verliebt sich der Steuerberater (Peer-Uwe Teska) – was uns einige schwülstige Passagen über die moderne Nacktschläferin einbringt.

Wackere Alltagshelden bevölkern die israelischen Short Cuts, die Amos Oz in seinem Roman „Allein das Meer“ versammelt hat. Wer sich vom Schicksal benachteiligt fühlt, darf sich beim Verfasser beschweren: Ein fiktiver Autor (Jörg Lichtenstein) streicht kommentierend über die Szene, nimmt mit Engelsgeduld Klagen seiner Protagonisten entgegen und belehrt uns über die Ohnmacht der schönen Literatur gegenüber dem harten, aber doch irgendwie herzlichen Leben.

Für Paul Binnerts’ Inszenierung ist diese Figur zentral: Der niederländische Regisseur hat aus „Allein das Meer“ einen Abend destilliert, der den Vorgang des Erzählens ständig mitreflektiert. Das heißt: Alle Figuren sind durchgängig auf der Bühne und üben sich nach bester Brecht’scher Schule im Zeigegestus. Wenn, was öfter passiert, „Geschlechtsakte vollzogen“ werden, stehen die Sexualpartner gern weit voneinander entfernt in Kapuzenjacken auf der betont antirealistischen Bühne.

Context is all – so exemplarisch wie bei diesem Theatertreffen-Gastspiel des neuen theaters Halle im HAU 1 wird einem diese Binsenweisheit selten vorgeführt. Zu Hause in Halle rutschen die Schauspieler zwar auch bisweilen vom Erzähl- in den Märchenonkel-Ton; und auch hier stört man sich mitunter an Oz’ Altherrentonfall, der Frauenkörper mit Gebirgsketten vergleicht. Aber trotzdem: Auf der Kulturinsel Halle (von „Tatort“-Kommissar Peter Sodann aus der Taufe gehoben) geht einem bei dieser Inszenierung das Herz auf. Und zwar, weil einem ganzen Publikum das Herz aufgeht: Inszenierungen wie „Allein das Meer“ gelten hier als experimentelles Wagnis.

Im HAU muss „Allein das Meer“ dagegen geradezu rührend vorgestrig wirken. Dass das Theater seine eigene Konstruktion reflektiert, ist hier nicht die Ausnahme, sondern quasi Zutrittsbedingung. Im Hallenser neuen theater ist es eine kleine Revolution. Sodann pflegte hier einen uneingeschränkten Realismus. Als die Stadt Halle sich für einen Leitungswechsel entschied, machte er seinem Nachfolger Christoph Werner den Neustart im letzten Herbst kurzerhand so schwer wie möglich.

Das Resultat: Die Auslastungszahlen sanken um 30 bis 40 Prozent. Man kann sich vorstellen, was eine Einladung zum Theatertreffen – es ist die erste für eine Bühne aus Sachsen-Anhalt überhaupt – vor diesem Hintergrund bedeutet; auch für die tagtäglichen Auseinandersetzungen mit lokalpolitischen Entscheidungsträgern. Nun mag man argumentieren, dass die Aufführung konzeptionell wie schauspielerisch in einer Liga spielt, die etwa mit Dimiter Gotscheffs „Iwanow“ nicht ansatzweise zu vergleichen ist. Andererseits erzählt „Allein das Meer“ mit seinem Kontext Geschichten über das real existierende deutsche Theater, die mindestens so spannend sind wie ein Stuttgarter „Platonow“ oder eine glatte „Dunkel lockende Welt“ aus München.

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