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Kultur: Sie fürchten weder Tod noch Teufel

Die Autofahrer staunen nicht schlecht.An einer Straßenbahnhaltestelle mitten auf der Prenzlauer Allee stehen plötzlich etwa zwanzig Matrosen in schweren Stiefeln und blauen Uniformen.

Die Autofahrer staunen nicht schlecht.An einer Straßenbahnhaltestelle mitten auf der Prenzlauer Allee stehen plötzlich etwa zwanzig Matrosen in schweren Stiefeln und blauen Uniformen.Ihre weißen Mützen leuchten in der Sonne.Sie haben sich zu einer Reihe formiert und schicken synchrone Winkzeichen in ein Nirgendwo aus Häuserfassaden, Straßenbahnschienen, Autokarosserien und Passanten.Eine schrille Bootsmannspfeife gibt den Takt an, während sie mit roten Flaggen ihre Botschaft Buchstabe für Buchstabe in die Luft malen.Die Leute reiben sich die Augen.In Berlin ist man einen so etwas nicht gewohnt.Welches Schiff hat die Matrosen wohl ausgespuckt?

Das Schiff heißt "Norden" und ist eine Erfindung des Regisseurs Frank Düwel und des Dramaturgen Manfred Scharfenstein.Es hat in einer alten Turnhalle im Prenzlauer Berg festgemacht, wo sich die freie Theaterproduktion seit März darauf vorbereitet, beim "Theater der Welt"-Festival als "Die Signalgeber" aufzutreten.Schon jetzt sind sie im Straßenbild der Stadt kaum noch zu übersehen.Riesige Plakate, auf denen sich das Theatertreffen ankündigt, werben mit der Gestalt eines Matrosen und je näher das Ereignis rückt, desto häufiger wird man den marine-blauen Troß selber antreffen können.Sie sind das Leitmotiv eines Festivals, das sich als Tor zur Welt versteht.

An diesem Abend proben sie die Ankunft.Eine Barkasse soll die Matrosen an der Zollpier in Treptow an Land setzen.Die Brücke wird durch einen Turnkasten, das Deck durch eine Turnbank, Mast und Segel durch einen zerfledderten Besen angedeutet.Nur die glänzende Schiffsglocke ist echt.Ihr Klang gießt die monotonen Abläufe in eine musikalische Struktur.Die Matrosen gehen einzeln oder in Paaren stillen, symbolischen Handlungen nach.Wie Bernsteinfiguren sind die Mythen der Seeschiffahrt darin eingeschlossen - in dem Paar der sich gegenseitig rasierenden Männer, in dem Mann, der das Lot auswirft und die Wassertiefe verkündet, in dem Ausguck.Eingefrorene Posen aus der Bordroutine, die sich zu einem theatralischen Tableau verdichten.

Das Projekt entstand 1994 aus Anlaß des 100.Geburtstages von Hans Henny Jahnn.Düwel und Scharfenstein wollten dem von ihnen verehrten Schriftsteller "ein Gedicht schenken" und winkten seine Texte im Hamburger Hafen aus.Diese Zerlegung eines literarischen Textes in die Bewegungen des Winkeralphabets machte nicht nur auf die Passanten einen enormen Eindruck.So haben sie ihre theatralischen Erkundungen fortgesetzt.

Jahnn zählt zu den wenigen deutschsprachigen Autoren, für die der Matrose - als männlicher Typus und Sex-Symbol - ein fesselndes Sujet war.Er war von seiner erotischen Ausstrahlung gefesselt, die von Buster Keatons "Der Navigator" bis Fassbinders "Querelle" immer wieder aufgegriffen worden ist.Aus über 100 Büchern - seemännischer Fachliteratur, Reiseberichten, Romanen und Erzählungen von Joseph Conrad und Hermann Melville - hat Manfred Scharfenstein die poetischen Motive zusammengetragen."Wir wollen keine Knotenbretter-Romantik oder ein maritimes Andenkengeschäft bedienen, wie es im Hamburger Hafen üblich ist", erklärt er, "sondern die Formen nautischer Kommunikation aus ihrem Kontext lösen, um sie der Stadt als stilisierte maritime Eigenwelt entgegenzusetzen.Die Verkehrsströme der Straßen und Plätze besitzen eine Dynamik, deren Kraft wir ableiten - wie ein Segelschiff die Kraft des Windes ableitet, wenn es sich durch den Seegang wühlt."

Scharfenstein, dessen Großväter noch Schiffer waren, lebt seit Jahren in Hamburg-St.Pauli.Die Zusammenarbeit mit Frank Düwel berührt, wie er lächelnd einräumt, verschüttete biographische Wurzeln."Es gab immer Bedürfnislagen, die das Bild des Matrosen benutzt haben, so wie ein Postkartenmotiv, das an der Wand hängt und auf eine ferne Welt verweist", sagt Düwel.Er selbst ist als Sohn eines Zoll-Beamten in Dithmarschen aufgewachsen und besitzt eine natürliche Beziehung zur Küste und den Geschichten, die sie hervorbringt.Als der Theaterwissenschaftsstudent Shakespeares "Sturm" auf einem Deich seiner Heimat aufführen wollte - bei Sturm -, stellte sich ihm zum ersten Mal das Problem: Wann hilft die Landschaft und wann stört sie? "Denn wir konnten uns darüber beklagen, daß es zu wehen begann und man kein Wort mehr verstand.Oder begrüßen, daß der Sturm sich tatsächlich ereignete.Wo die Sprache nicht weiterhilft, muß der Körper diesen Mangel kompensieren."

An der Wand der Turnhalle hängen zahlreiche Bilder und Tafeln, Anschauungsmaterial für die Laienschauspieler, damit sie in ihre Rollen hineinwachsen können.Denn den meisten Theater-Matrosen ist die See so fern wie nur irgendwem.Als sie sich vor Monaten auf eine Anzeige hin meldeten, ahnten sie noch nicht, welche Verwandlung ihnen bevorstand.Denn als Signalgeber mußten sie sich etwas von jener Autorität aneignen, die sie aus ihrem Umfeld heraushebt - eine Aura, die selbst vom Unverständnis der Passanten, dem Tosen des Straßenlärms und dem Gewühl einer Einkaufspassage nicht angegriffen werden kann.

Aber wie verwandelt man eine Privatperson, der die Anonymität der Großstadt in den Knochen steckt, in ein öffentliches Symbol? Frank Düwel hat viel Zeit darauf verwendet, seinen Darstellern eine Konzentration und Körperspannung zu vermitteln, die nicht auf einen Moment fixiert ist, sondern dauerhaft im öffentlichen Raum präsent bleibt.Den Seeleuten sind solche Eigenschaften durch Disziplin und Drill anerzogen worden.Die Schauspieler aber sollen nach Art des asiatischen No-Theaters ein Verständnis für Distanzen entwickeln und wie man sie überbrückt."Ich möchte die Eintönigkeit auf See inszenieren und mit dem Ungestümen kontrastieren", sagt Düwel."Ein Gemälde, an das ich denke, zeigt zwei Matrosen, die übereinanderliegen und aus lauter Langeweile herumtätowieren." Und verschmitzt fügt er hinzu: "Wir sind wie die Mannschaft des Fliegenden Holländers, die ihren Kapitän über Bord geworfen hat.Das Problem mit den Frauen haben wir gelöst und ziehen ohne ihn weiter."

"Die Signalgeber" treten am 4.6.um 15 Uhr am Pariser Platz, um 17 Uhr am Potsdamer Platz (S-Bahnhof) auf.Das Einwinken findet am 18.6.auf den Wasserstraßen Berlins statt, das Auswinken am 4.7.am Schloßplatz, Mitte

KAI MÜLLER

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