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Kultur: Sommerhaus, vorbei

Barfuß durch den Raps, bei flirrender Hitze: So ist fünf Monate lang das Leben auf dem Land. Bis der Herbst kommt – und wieder das Licht der Großstadt lockt

Der Sommer beginnt im zeitigen Frühling. Noch mitten in der Stadt träumt man von einer endlosen Kette barfüßiger Tage, jeder einzelne warm, still und duftend. Lustvolle Phantasien sind das: von immergleichen hohen, blauen Himmeln, makellosen Sommerhimmeln, die sich am Abend golden färben, schwarz färben, schwarz werden, bestückt mit unzähligen Sternen.

In der Kindheit, so lügt die Erinnerung, ist jeder, aber auch jeder Sommer so gewesen. Man muss nur die Augen schließen, um alles wieder zu sehen: die flirrende Hitze über den Feldern, das kühle Wasser des Sees, die stillen Schatten der Wälder.

Natürlich sind diese Kindheitssommer nichts anderes als nostalgische Utopien. Unscharfe Traumbilder eines irdischen Paradieses, das sich jedes Jahr erneuert und von den Statements der Meteorologen beglaubigt werden kann. Die Sorge um das Wetter der kommenden Monate hat hier ihren Ursprung. Wird der Sommer trocken und sonnig, mit vielen Hitzetagen? Die Großwetterlage über der nördlichen Halbkugel geprägt von stabilen atlantischen Hochs? Verharrt der Himmel tagelang in bleigrauer Unentschlossenheit, quält mit langwierigen Regenepisoden, provoziert ein zähes Warten auf Wolkenlücken, auf die Wiederkehr des köstlichen Blau?

Ein Sommer auf dem Lande. Im Sommerhaus mitten in Mecklenburg. Das Haus steht am Rand eines winzigen Dorfes, eines Weilers, der über abseitige, wenig befahrene Straßen zu erreichen ist. Das Dorf ist so klein, dass es nur auf den Landkarten der Region verzeichnet wird. Jeder Besucher verirrt sich beim ersten Mal, so versteckt sind die Straßen, die zum Haus führen.

Einst ist das Haus ein wirkliches Bauernhaus gewesen, ein Lebensort für Viehzüchter und Feldarbeiter. Die großen Ställe an der Rückfront des Hauses stehen leer, in den Speichern unterm Dach liegt noch immer Stroh, das dort vor wer weiß wie vielen Jahren eingelagert wurde. Jetzt genügt das halbe Dutzend Räume an der Vorderfront: die Wohnzimmer mit ihren hohen Fenstern, das große Bad, dessen alter Steinfußboden auch im Sommer noch Kühle ausströmt, die Küche gleich hinter der Eingangstür, zu der drei Stufen hinaufführen. Das Haus hat alles, was man braucht, um einen langen Sommer zu überstehen. Es ist hell und still, der Tisch steht unter dem Fenster, davor die schlanke, hohe Birke, ein paar uralte, halb schon kahle Obstbäume. Die Felder, am Horizont die Kante des Waldes.

Ende Mai blüht auf den Feldern der Raps. Die Nachtigallen balzen im Flieder, das Wasser des Sees ist noch eisig kalt. Als dichter grüner Teppich liegt das Korn über dem Land. Auf ihrer Suche nach Nistplätzen streifen Schwalben unruhig ums Haus, oft verirrt sich eines der Tiere in den Räumen, prallt hektisch gegen Wände oder Decke, und findet das offen stehende Fenster nur, wenn man längere Zeit das Zimmer verlässt.

Das Leben wird einfacher auf dem Land – so heißt das Versprechen. Die Gier der Stadt fällt von dir ab, die ewige Sorge um das Kommende, der Wille nach immer mehr. Nur die Gegenwart zählt. Alles ruft Jetzt! Jetzt! Leichter fließen die Tage im Dolce Vita eines Sommers auf dem Lande.

Es wird nicht viel geschehen in diesen Wochen – und gerade so ist es gut. Man sitzt an seinem Tisch, betrachtet die elliptischen Flugbahnen der Schwalben, den Zug der Wolken, die wechselnden Tönungen des Himmels. Ein paar Besucher werden sich einstellen, sie werden nicht lange bleiben, für einen Abend und vielleicht den nächsten Tag. Im Wald kann man stundenlang gehen, ohne auf einen Menschen zu treffen. Selbst schlaflosen Nächten lässt sich in der tiefen Stille des Hauses noch Genuss abgewinnen.

Natürlich liegt das Haus nicht hinterm Mond. Ländliche Idyllen, mit Bauern auf Pferdewägelchen und Kopftuchfrauen vorm Heuschober sind nur noch Literatur. Auch dieser Winkel tief im Osten des Landes hat sich in den letzten Jahren in eine moderne Arbeits- und Erlebnislandschaft verwandelt. Dieses Mecklenburg ist Teil der ersten Welt geworden, liegt nun mitten in den Kernzonen des technologischen Fortschritts, partizipiert am Wohlstand Westeuropas. Die Teenager im Dorf tragen internationale Markenkleidung und sehen am Nachmittag die Clips auf MTV. Wahrscheinlich haben sie ungefähr die gleichen Sehnsüchte wie ihre Altersgenossen in London und New York, folgen denselben kulturellen Ikonen, auch ihr Bewusstsein formt sich unterm Diktat einer globalen Pop-Ästhetik. Sie fahren mit Rollerblades über die Dorfstraße, gehüllt in diese modischen Hosen, die viel zu weit sind und sackartig in den Kniekehlen hängen; wer was auf sich hält, trägt Turnschuhe von Nike oder Adidas. Im Supermarkt der nächsten Kleinstadt kann man Antipasti und gute italienische Weine kaufen. Die schmale Asphaltstraße, die ins Dorf führt, ist im Frühjahr zum Radwanderweg ernannt worden, Teil eines europaweiten Netzes; ein Angebot für Erlebnistouristen, die hier den Frieden der Provinz genießen.

Dem Mainstream globaler Moden und Trends entgeht auch im tiefen Mecklenburg keine Landschaft und keine Seele. Auch hier lebt man nun im stählernen Gehäuse der kapitalistischen Wirtschaftsrationalität, fasziniert von technologischer Effizienz, eingespannt in die Wonnen des Konsums. Die Unterschiede zwischen Stadt und Land schwinden. Die alten norddeutschen Backsteinhäuser werden mit Ziegelimitaten aus leuchtendem Kunststoff verkleidet, die Bauern kaufen japanische Autos mit Navigationscomputern und lassen sich die Arbeit auf ihren Höfen von immer mehr und immer neuen Maschinen abnehmen. Die Landwirtschaft im Dorf ist hoch motorisiert, mit schwerer Technik rumoren die Forstarbeiter in den Buchenwäldern. Auch der liebenswürdige Nachbar, ein alter Bauer, geht nun stolz mit einem amerikanischen Benzinpflug über sein winziges Kartoffelfeld. Die Alten im Dorf haben noch diese besonderen Land-Gesichter: wettergegerbt, zerschlissen von rauhen Zeiten, die Hände gezeichnet durch Jahrzehnte schwerer körperlicher Arbeit. Unwillkürlich zählt man beim Blick auf solche Hände deren Finger – ob nicht einer davon unter dem Blatt einer Kreissäge oder der Schneide einer Axt geblieben ist. Die ganz Alten reden Platt miteinander und hätten eine Menge über ihr Leben zu erzählen, wenn sie jemand danach fragen würde.

Die Verbindungen zu Stadt und Welt bleiben intakt in all diesen Sommerwochen. Man ist online im Haus, via Handy und Internet, jeden Abend wird der großstädtische Anrufbeantworter belauscht. Es geht ja nicht um Eremitentum, Ausstieg und Leistungsverweigerung; die Geschäfte wollen besorgt sein, so ein Haus ist nicht billig, und überhaupt. Täglich am frühen Nachmittag bringt der Postbote die Zeitungen, am Abend liefert der Satellit zwei Dutzend Fernsehprogramme ins Haus.

In der Dämmerung liegt das Dorf im Talkessel unter einem brandroten Himmel hingestreckt. Man sieht es gut von der uralten, kopfsteingepflasterten Eichenallee, die über eine Anhöhe zum Wald führt. Nachts brüllen die Hirsche im Wald. Der Vollmond liegt gelb und schwer auf den Wiesen.

Mitte Juli holpern am Fenster die ersten Traktoren vorbei, hoch beladen mit glänzendem Korn. Von den Feldern dröhnen riesige Mähdrescher, Made in USA. Grüne, in Staubwolken gehüllte Monsterinsekten. Jeden Sommer überrascht der Beginn der Ernte aufs neue, viel zu früh scheint es für dieses untrügliche Zeichen, dass der Sommer auf seinem Scheitelpunkt steht, sich bald neigen und an Kraft verlieren wird.

Die Zeit beschleunigt sich jetzt. Ende August kommen die Pilze. In feuchtwarmen Spätsommernächten, wenn auch die hiesige Mückenpopulation sich frisch belebt, schießen sie aus ihren geheimnisvollen Bodengräbern. Stehen eines Tages weiß leuchtend am Feldrand oder braun getarnt im Moosversteck.

Die Pilze sind die letzte große Freude jedes Sommers. Mit der Gier des Jägers geht man die bekannten Wege. Unruhig streifen die Augen über den Boden. Es gibt Parasol- und Steinpilze, Maronen, den köstlichen Butterpilz. Die Bauern im Dorf preisen die jungen Flaschenboviste. Die Pfifferlinge lohnen ihre mühselige Zubereitung mit einem extraordinären Geschmack. All die kulinarischen Genüsse, die nun warten: Pfannenpilze mit festem Biss, innen weich und schneckenähnlich, Pilzpüree, mit saurer Sahne und Kartoffelmus vermengt, köstliche Pilzsuppen. Die marinierten, kräftig gewürzten Pilze im Einmachglas und die noch im Winter an die Freuden des Spätsommers erinnernden Trockenpilze.

Manchmal sind Mitte September die Tage noch strahlend schön. Morgens wird der kühle Dunst rasch von einer noch immer kräftigen Sonne vertrieben, danach zeigt sich keine Wolke am Himmel. Ein Nachsommer, wie Stifter ihn besungen hat. Das Licht ist jetzt von auffallender Schönheit. Ein klares, helles, niemals gleißendes Licht, das alle Farben zum Leuchten bringt und den Dingen scharfe Konturen macht. Das Nietzsche-Licht, dem der von Kopfweh und Augenschmerz geplagte Philosoph immerzu nachjagte und das er nur im italienischen Herbst von Turin und Genua fand.

Man stiehlt Mais von den Feldern, pflückt Pflaumen von vergessenen Alleebäumen, zieht in den Wald, um Holz für den Winter zu holen. Hartes, heiß brennendes Buchenholz, das aus den Kronen gefällter Bäume ausgesägt wird. Am Abend schmerzen die Handgelenke und die Knie zittern. In den wenigen Tagen, die man im Winter hier draußen verbringt, wird das Holz gute Dienste leisten.

Im Dorf wird Erntefest gefeiert. Vorm Festsaal stehen große Puppen aus Stroh. Bei Korn und Bier sitzen sie an langen Tafeln, draußen dreht sich ein Wildschwein über dem offenen Feuer. Unter die Alteingesessenen des Dorfes hat sich eine Gruppe von Dazugekommenen gemischt. Ärzte und Akademiker aus der nahen Kleinstadt, die neue Häuser an der Hauptstraße bewohnen, und Großstadtmenschen, die hier ein Bauernhaus besitzen. Berliner zumeist, Leute mit vorsichtigen Gesten und einem scheuen Lächeln, das den Wunsch verrät, im Dorf respektiert und vielleicht sogar gemocht zu werden.

Die Alten reden von der Vergangenheit. Von der harten Arbeit, die man früher hatte, und die einer nur bewältigen konnte, wenn er ein ganzer Kerl war. Morgens um halb vier bei den Kühen, danach die Ställe ausgemistet. Tagsüber auf den Feldern, am Abend wieder die Kühe. In der Dämmerung gab es Schnaps und Bier, man ging mit den Hühnern ins Bett. Was waren wir für Kerle, rufen sie, damals als die Felder noch zweimal im Jahr bestellt wurden. Wie viele Tricks haben wir gekannt! Niemand konnte uns das Wasser reichen!

Manch einem treibt das Einstweh ein feuchtes Glänzen in die vom Alkohol geröteten Augen. Schwielige Fäuste schlagen auf die Tische mit den Kunststoffplatten. Ihre Frauen sitzen daneben, ab und zu fährt eine ironisch dazwischen: Was du bloß redest. Gesoffen hast du! Und jetzt nimmst du den Mund voll. Schweigend greifen die Männer zu ihren Gläsern.

Zur Dorfbevölkerung gehören fast nur noch alte Leute. Ihre Kinder haben Höfe und Häuser verlassen und leben in den Plattenbausiedlungen naher Kleinstädte oder sind in den Westen gezogen, wo es Arbeit gibt. Vielleicht wird das Dorf eines Tages nur noch aus Sommerhäusern bestehen.

Immer früher kommt jetzt die Dunkelheit. Wind fährt um die Wände des Hauses, Kälte kriecht in die Mauern. Eines Abends ist die Bettwäsche klamm, der Kachelofen wird zum ersten Mal angeheizt. Die Zugvögel haben sich auf den Weg gemacht. Nachts steht ein brausender Sternenhimmel über dem Haus. Plötzlich scheint die Stadt ein lockernder Ort. Voll Licht und Wärme, Geselligkeit und Trost. Dass man Trost braucht, ist das untrüglichste Zeichen. Der Sommer ist zu Ende.

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