zum Hauptinhalt
Ulrichshusen

© Ullstein

Sommerserie: See und Seelenruh’

Der Zauber eines Ortes entspringt weniger seiner Bestimmung als seinem Erinnerungsvermögen. Magische Orte (1): Mit Ulrichshusen in Mecklenburg startet unsere Sommerserie.

Es kann die Spannung nur erhöhen, wenn man kurz vorm Ziel noch einmal abbiegt. Der Wegweiser Wüste Kirche ist auch zu verlockend, und es ist nur ein halber Kilometer. Eine leichte Anhöhe, links Felder, rechts eine Pferdekoppel. Hohe Eichen verdecken den Steinhaufen, der ein Gotteshaus war, Mittelpunkt eines Dorfes namens Domherrenhagen. Man braucht es auf keiner Karte zu suchen. Ein Wanderer, der 1458 hier vorbeikam, fand die Dorfbewohner tot auf; die Pest vermutlich. Um 1220, sagt eine Tafel, wurde die Kirche erbaut. Es stehen jetzt zwei Mauerbögen gottverlassen in der Landschaft, die schweren Feldsteine zusammengehalten von ein paar Kellen Zement .

Die Pferde sind uns gefolgt. Sie stehen am Zaun und schauen herüber, wir entdecken ein zerbrochenes Taufbecken und atmen die Ruhe ein. Warum sind Ruinen so faszinierend? Weil sie Verfall und Dauer zugleich darstellen. Das Drama von Domherrenhagen wird ewig ein Geheimnis bleiben. Die Toten sollen damals rings um die Kirche begraben worden sein. Wir werden beobachtet: Die Pferde drehen ab, als wir näher kommen, und auf dem Weg zurück zur Straße sehen wir einen Hasen auf dem Feld, der ein prächtiges Hasendenkmal abgibt; mit senkrecht aufgestellten Riesenohren schaut er, überlegt nicht lang und stürmt, die Löffel weggeklappt, den Hügel herauf, wo er anhält und schaut, ob wir hinterhergekommen sind.

Die wüste Kirche ist schon wieder hinter den Bäumen verschwunden, aber ihre animalischen Geister – sie sind freundlicher Natur, an diesem warmen, hellen Sommertag – begleiten uns bis ans Eingangstor zum Schlosspark Ulrichshusen. Auch Schloss Ulrichshusen, in Mecklenburg nördlich der Müritz gelegen, gut versteckt in der Mitte zwischen Hamburg und Berlin, war am Ende der DDR-Zeit ein Trümmerhaufen, wüst und abgebrannt.

Helmuth von Maltzahn erzählt Ulrichshusener Geschichten mit dem lachenden Stolz eines Menschen, der selbst Geschichte schreibt. Das macht Arbeit und kostet viel Geld, aber es verschafft offenbar auch große Befriedigung. Der neuzeitliche Schlossherr sprüht vor lustiger Energie. Als Helmuth und Alla von Maltzahn 1993 Ulrichshusen erwarben, deutete nichts darauf hin, dass hier einmal ein Hauptspielort der Festspiele Mecklenburg-Vorpommern sein würde. Musik ist in Scheunen, Herrenhäuser und Kirchen eingezogen. Nach Ulrichshusen kommen 50 000 Besucher pro Jahr, ein Großteil davon zu den Konzerten. Das Schloss ist ein Hotel, der Pferdestall ein Restaurant.

Das klingt nach massigem Kulturtourismus an einem so abgelegenen, naturschönen Ort. Aber die Empfindung ist anders. Menschen und Autos fügen sich harmonisch ins Bild, wie das Gebäudeensemble am kleinen Ulrichshusener See. „Man muss einem Ort eine Seele geben“, sagt Helmuth von Maltzahn. Es ist ihm gelungen. Er hat in Harvard studiert und als Manager in der Industrie gearbeitet. Heute ist er ein international geachteter Restaurator. Er hat mehr getan, als für seine Familie alte Besitztümer zurückzugewinnen. Festspiele dieses neueren Typs (Landpartie plus Klassik plus Gastronomie und Hotellerie) mögen noch so ehrgeizige Ziele verfolgen – hier läuft der Kulturbetrieb angenehm untertourig. Man fühlt sich in eine Fontane-Umgebung versetzt. Sein Roman „Unwiederbringlich“ geht auf eine Ehetragödie derer von Maltzahn zurück.

Ihre Familienzweige haben hier vielerorts Spuren hinterlassen, sie waren über Jahrhunderte mächtige Landherren in Mecklenburg. 1562 erbaut, brannte Ulrichshusen, dies kompakte, hoch aufragende Wasserschloss der nördlichen Renaissance, im Dreißigjährigen Krieg aus. Springen wir ins Jahr 1987, denn Geschichte wiederholt sich: Flammen schlagen aus dem Dachstuhl. Die damalige Bewohnerin, so geht die Erzählung, war für die DDR in Devisengeschäften unterwegs und geriet zwischen die Fronten von Stasi und Partei. Sabotage, Racheakt, Schlamperei, man weiß es nicht genau. Die Feuerwehr schaute zu. Ulrichshusen war dahin.

Die Magie eines Ortes entspringt weniger seiner Bestimmung als seinem Erinnerungsvermögen. Auf eine seltsam berührende Weise ist Ulrichshusen nicht ganz und gar in unsere Zeit zurückgekehrt. Picknick am See, auf alten Liegestühlen aus Eisen und verwittertem Holz. Man sitzt hart, die Seele wird weich. Aus dem Schloss dringen satt angeschlagene Klavierfiguren. Sebastian Knaur probt für die Nachmittagsveranstaltung mit Martina Gedeck, die jetzt auch gleich in einer schwarzen Limousine aus Berlin über den knirschenden Schotter der Auffahrt rollt.

Beethovens „Mondscheinsonate“, ein bisschen früh am Tag. Das Stück gehörte zu Gerhart Hauptmanns musikalischen Favoriten, wie Schumanns Fantasien und Debussys Arabesken. Die Schauspielerin und der Pianist erzählen nachher von der Liebe des 40-jährigen Dramatikers zu der 17-jährigen Aktrice Ida Orloff („Kleine deutsche Venus, du!“). Hauptmann wurde alt wie ein Methusalem, die Midlife-Krise schlug bei ihm tatsächlich haarscharf in der Mitte des Lebens ein. Er war von Sinnen, sie war seine Hauptdarstellerin in „Und Pippa tanzt“ und „Hanneles Himmelfahrt“. Sie verlebten eine wilde Zeit auf Rügen und sahen sich erst nach vierzig Jahren wieder. Eine amour fou.

Schnell breitet sich darüber wieder die Mecklenburgische Seelenruhe. Es ist doch eher ein Fontane’scher Ort. Zu Ulrichshusen passt die geduldige Prosa des Neuruppiners mit ihren sanft dahinrollenden „Stechlin“-Dialogen besser als Hauptmanns Schauspielwut. Also eher Schumann’sche „Grillen“ als Mondscheingewitter. Und noch immer beschäftigt uns die schier außerirdische Stille. Die Menschen reden, trinken Wein, kauen an Hühnerbeinen, lesen und dösen unter uralten Bäumen. Gehen schwimmen im kalten See und trocknen die Haut im Wind.

J. M. Coetzee, der Literaturnobelpreisträger, hat die Theorie aufgestellt, dass wir die (romantische) Musik des 19. Jahrhunderts als fern und fremd und schön empfinden, weil uns die Gefühlslagen abhanden gekommen sind, denen diese Musik entspringt. So lässt sich Magie auch deuten. In Ulrichshusen – das wäre eine etwas schnödere Erklärung – gibt es keinen Handyempfang. Man nennt es Funkloch und meint: Idyll, Oase, Sanssouci. Nur oben auf dem Hügel, bei den Trümmern der Wüsten Kirche, wo sich Pferd und Hase gute Nacht sagen und die namenlosen Toten liegen, da zeigen sich auf dem Display zwei, drei verräterische Balken.

Am 20., 26., 27. 7. sowie am 2. und 3. 8. finden in Ulrichshusen Konzerte der Festspiele Mecklenburg-Vorpommern statt, u. a. mit Daniel Müller-Schott, Ivo Pogorelich, Julia Fischer. Karten: 0385 - 5918585 oder Internet: kartenservice@festspiele-mv.de

Rüdiger Schaper

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false