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Kultur: Spiel der Muskeln

Der Künstler als Anatom: Die Albertina in Wien feiert Michelangelo, Raffael, Leonardo und ihre Zeit

Der Angriff kam überraschend. Nichts ahnend hatten die Soldaten vor der Schlacht wegen der Hitze noch im Arno gebadet, als das Heer der Pisaner über sie hereinbrach, mit Pferden, Rüstungen, Schwertern und Lanzen. Der Kampf am 29. Juli 1364 endete dennoch siegreich für die Florentiner. Noch 140 Jahre später wollten sie dem Sieg deshalb ein Monumentalbild im Ratssaal des Palazzo Vecchio widmen.

Auch das ist jetzt schon 500 Jahre her, und die Schlacht wäre eine von vielen im kriegsbewegten 14. Jahrhundert geblieben – wenn sie nicht Anlass für die Geburt einer Kunstlegende gewesen wäre. 1504 war der damals 29-jährige Michelangelo von der Florentiner Stadtversammlung mit der Ausmalung der Wand im Ratssaal beauftragt worden. Sein größter Konkurrent, der 23 Jahre ältere Mailänder Leonardo da Vinci, arbeitete zur gleichen Zeit an der gegenüberliegenden Wand. Dessen Sujet: die Schlacht von Anghiari im Jahr 1440. Wie müssen sie einander beobachtet haben, der Meister und der Shooting-Star. Leonardo, wird berichtet, habe unter dem Einfluss von Michelangelos wuchtigen Körperzeichnungen noch einmal mit dem Aktstudium begonnen.

Die Zeitgenossen beobachteten den „Paragone“, den Wettstreit der Giganten, damals mit höchstem Interesse. Florentiner Künstler wie Rosso Fiorentino oder Andrea del Sarto pilgerten zu den Zeichnungen, um sie zu kopieren. Noch in Siena diskutierte man über die Qualitäten der beiden Entwürfe. Sieger war für die meisten Michelangelo: Cellini lobt die Vorzeichnung für das Schlachtenbild als „Scuola del Mondo“, als Schule der Welt. Und Vasari berichtet, kein Genie könne jemals eine ähnliche Herrlichkeit der Kunst erreichen. Ausgeführt wurde der Entwurf übrigens nie, die Vorlage zerstückelt und zerstört. Auch Leonardos Bild hat spätere Umbauten des Palazzo Vecchio nicht überstanden. Der Künstlerwettstreit um die Schlachtenbilder: ein Mythos.

Heute streitet man sich eher um den künstlerischen Rang von Michelangelo und dem acht Jahre jüngeren Raffael. Auch hier zwei gegensätzliche Charaktere: Michelangelo der Kunst-Titan, der große Einsame, ständig mit seinem Stoff Ringende, Raffael hingegen das Wunderkind aus Urbino, dem alles leicht wird, harmonisch und schön. Wo die heutigen Präferenzen liegen, zeigt sich daran, dass die Albertina ihre aktuelle Großausstellung unter den Titel „Michelangelo und seine Zeit“ stellt, obwohl unter den 100 gezeigten Blättern nur acht von Michelangelo stammen – und von Raffael 26.

Seit der Wiedereröffnung trumpft das Grafikmuseum der Albertina mit einer einzigartigen Folge von Blockbustern – Munch, Dürer, Rembrandt – auf. Auch Michelangelo mag nach dem Kalkül der Veranstalter mehr Besucher anlocken. Qualitativ sind Raffaels Zeichnungen dennoch der eigentliche Höhepunkt der Ausstellung. Und mehr noch als die kunsthistorisch verdienstvolle Untersuchung des Einflusses der beiden auf spätere Generationen besticht das geniale Einzelblatt – sowie die Auseinandersetzung zweier Großmeister. Ein frühes Blatt Raffaels, die 1505 entstandene „Studie zweier nackter Jünglinge“, von denen sich einer rückwärtig auf einen Felsvorsprung stützt, zeigt den Einfluss Michelangelos. Vasari berichtet, dass Raffael 1504 eigens nach Florenz gekommen sei, um dessen Cascina-Zeichnung zu sehen.

Ebenbürtig wird Raffael dem älteren Meister jedoch mit seinen Studien, die nach 1510 in Rom entstanden. Bei der Skizze eines jungen Mannes, der seinen Vater vor dem Borgobrand rettet, spannt sich die Haut des Alten ledern über den Knochen, lastet dessen noch immer wuchtiger Körper schwer auf den schmaleren Schultern des Jungen, kugelt der tragende Arm fast aus dem Gelenk. Hier hat einer genau hingeschaut, wie das geht mit dem Spiel der Muskeln und dem Bau des Skeletts. Bei anderen Skizzen wie der „Studie zu einem Engel“ für die Chigi-Kapelle der Kirche S.Maria della Pace in Rom mussten die weiblichen Modelle die Ärmel hochkrempeln, damit der Maler das Spiel der Muskeln studieren konnte.

Haut, Knochen, Muskelspiel. Lange gab es nicht mehr so viel Nacktheit zu sehen wie in Wien. Die Künstler des ausgehenden 15. Jahrhunderts stürzen sich auf das Aktstudium: Der Mensch und seine Anatomie stehen, seit Beginn der Neuzeit, im Mittelpunkt des Universums. Vom Silberstift über die Feder bis hin zu Rötel und Kreide ist in Wien jedoch gleichzeitig die Entwicklung der Zeichnung als eigenständige Gattung zu beobachten, die längst nicht mehr nur Skizze oder Vorstudie, sondern geschätztes Tauschobjekt wurde. So hat Albrecht Dürer auf einer Aktzeichnung von Raffael stolz vermerkt, der Künstler selbst habe sie ihm nach Nürnberg gesandt. Pietro Aretino bestürmte Michelangelo, er möge ihm eine Zeichnung zukommen lassen, und seien es nur zwei Striche aus seiner Hand. Und Vasari berichtet, dass CosimoI., Großherzog der Toskana, die Zeichnungen Michelangelos schätzte wie kostbare Juwelen. Ein Großteil des Albertina-Konvoluts schließlich stammt aus dem Besitz von Peter Paul Rubens.

Realismus und Heroisierung, wissenschaftliches Interesse und künstlerischer Ehrgeiz prägen die Zeichenkunst der Renaissance. Wie eine Kleiderpuppe hat Raffael 1511 einen fliegenden Engel auseinander genommen, hat links den nackten Engel gezeichnet und daneben, in gleicher Haltung, das fein gefältelte Gewand. Oder, 1505, sechs charmante Madonna-mit-Kind-Studien auf einem Blatt: Ausgelassen tollt das Kind auf dem Schoß der Mutter herum, Zeichnungen wie im Minutentakt, Augenblicksbeobachtungen eines Künstlers, dem der Strich leicht von der Hand geht.

Und doch war es Michelangelo, der sich nachts heimlich auf die Friedhöfe stahl, um Leichen zu sezieren und den Aufbau der Körper zu studieren. Wie Anatomiestudien wirken seine Zeichnungen, angefangen mit dem ersten männlichen Rückenakt von 1501. Da türmen sich Muskelberge, ziehen sich Sehnenstränge, stechen die Knochen an den Schultern hervor.

Das verbotene Studium hat sich gelohnt: Bei allem gemeinsamen Interesse an realistischer Körperdarstellung ist es Michelangelo, der den inneren Zusammenhalt des Körpers begreift, während bei Raffael alles äußere Beobachtung bleibt, Erscheinung statt Erkenntnis. Leonardo, der Dritte im Bunde, der Künstler und Wissenschaftler, wäre hier das Bindeglied gewesen. Dass die Albertina von ihm nur zwei – wenn auch exquisite – Studien zeigen kann, ist ein kleiner Makel in der ansonsten überreichen Schau.

Dass am Ende doch Michelangelo das Rennen macht, liegt nicht zuletzt am Geschick des Kurators Achim Gnann. Effektvoll hat er, nach einigen Sälen der ins Manieristische abgleitenden Nachfolge-Generationen von Parmigianino, Sebastiano del Piombo und Giulio Romano, noch einmal drei Michelangelo-Blätter aus den 1530er-Jahren an den Ausgang platziert: eine Aktstudie und zwei Kreuzesabnahmen. Noch einmal nimmt sich der Künstler in unglaublicher Eindringlichkeit das Thema Anatomie und Erkenntnis vor und meißelt, in der „Beweinung Christi“, eine komplexe, vielfigurige Gruppe dicht gedrängt um den Leichnam, als habe er sie aus einem einzigen Block gehauen. In der „Pietà“ hingegen ist der tote Christus eine monumentale, marmorglatte Figur, von der nur angedeuteten Madonna effektvoll in aufrechter Position gehalten.

Zwanzig Jahre später wird Michelangelo mit der „Pietà Rondanini“, seinem letzten, unvollendeten Werk, noch einmal auf Thema wie Komposition zurückkommen. Seine Zeichnungen zeigen schon Jahrzehnte zuvor einen Künstler, der auch als Maler immer Bildhauer war.

Michelangelo und seine Zeit, Albertina, Wien, bis 26. Oktober, danach Guggenheim-Museum Bilbao. Katalog (Mondadori Electa) 29 Euro.

Christina Tilmann

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