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Kultur: Sprengmeister am Werk

Widmann, Beethoven und die Philharmoniker.

Die Flöte als Rattenfänger und Geisterbeschwörer: Emmanuel Pahud intoniert nur eine kurze elegische Sequenz und schon hat er die Kollegen im Schlepptau, die übrigen Flötisten der Berliner Philharmoniker, das Fagott, die Trompete. Jörg Widmanns „Flute en suite“, Auftragswerk des Cleveland Orchestra von 2011, übt sich in der Kunst der Anspielung. Zum einen animiert der Solist nach und nach die verschiedenen Instrumentengruppen, zum anderen klingt in diesem Reigen von acht barockisierenden Stücken alles wie zu Bachs Zeiten – und doch ganz anders. Allemande, Sarabande, Choral: lauter Persiflagen des Formenkanons und der Affektenlehre der Barockzeit. Hier geht es uneigentlich zu, restlos eklektisch, trotz mancher bruitistischer Zerrbilder immer im Rahmen bekannter, längst ausgeschrittener Klangwelten.

Aufmerken lässt bei der europäischen Erstaufführung von Widmanns Suite am Freitag in der Philharmonie vor allem die Wendigkeit des Solisten. Wie Pahud Töne verschlankt, verfärbt, verformt, wie er sie verschwimmen und verschwinden lässt oder in null Komma nichts in gezielte Unsauberkeiten und schrille Tinitus-Höhen treibt, ist ebenso staunenswert wie die Unverwechselbarkeit, bis zu der die Philharmoniker und ihr Soloflötist sich einander anverwandeln. Stürmischer Applaus nach der Gaudi der Badinerie, die von Bachs h-Moll-Suite bis zum Tristan-Akkord die Ohrwürmer des Repertoires herbeizitiert und mit kleinen, gemeinen Störmanövern durchsetzt.

Bereits bei Haydns c-Moll-Symphonie Nr. 95 hatte Simon Rattle am Pult den Montagecharakter hervorgekehrt und gleich zu Beginn des Allegros das trotzig-signalhafte Kopfmotiv in krassen Kontrast zur lyrisch-transzendierenden Replik gestellt. Auch in Beethovens Siebter nach der Pause forciert er die jähen Wechsel, zwischen dem pastoralen und dem triumphalen Beethoven im Eingangssatz oder den verdämmernden Holzbläsereien und der hurtigen TuttiBetriebsamkeit im Presto.

Präzise gelingt all das meist erst bei der Wiederholung der Themen, auch der Trauermarsch leidet unter Manierismen. Aber allmählich ahnt man, worum es Rattle bei allem Radikalisieren des Symphonischen geht, um die Kehrseite des Klangschönen. Die Sechzehntel zu Beginn des Finalsatzes sind kaum zu hören, sie dienen als Füllmaterial im Inneren massiver Akkordblöcke, hoch intensiver atmosphärischer Schichten. Beethoven in der Gefahrenzone – bis die Klangkruste Risse aufweist, Erdbebenrisse. Rattle und die Philharmoniker sprengen das Werk gleichsam von innen auf, legen den Schmerz frei, das Unversöhnliche im Kern der Tonalität. Was das Unerhörte betrifft, läuft Beethoven Widmann an diesem Abend locker den Rang ab. Christiane Peitz

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