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Kultur: Standortfaktor Ratte

Der Mann steht in seinem bunten Spielmannskostüm wie ein Standbild am hinteren Bühnenrand und blickt in die Ferne.Die Ratten, diese entsetzliche Heimsuchung, die die Kornspeicher der Stadt Hameln vernichtet und Krankheit und Tod verbreitet haben, stürzen an ihm vorbei in den Fluß, während er bewegungslos dasteht, seine Flöte wie ein Fernrohr erhoben.

Der Mann steht in seinem bunten Spielmannskostüm wie ein Standbild am hinteren Bühnenrand und blickt in die Ferne.Die Ratten, diese entsetzliche Heimsuchung, die die Kornspeicher der Stadt Hameln vernichtet und Krankheit und Tod verbreitet haben, stürzen an ihm vorbei in den Fluß, während er bewegungslos dasteht, seine Flöte wie ein Fernrohr erhoben.Schaut er auf eine bessere Zukunft, die sich im zarten Schimmer einer glühenden Morgendämmerung ankündigt? Die Akkorde rauschen heran wie eine Brandungswelle, dann verebben sie vielsagend, und es fällt der Vorhang.Ende des ersten Teils.Pause.Das Publikum strömt über einen meerblauen Teppich ins Foyer und auf den Vorplatz hinaus.Man kann im Nachthimmel die Kirchturmspitzen und alten Häuser sehen, die das Bühnenbild am Theater Hameln nur skizziert.Wo mag sich wohl einst die Vordere Stadt befunden haben, von der im Stück die Rede ist? Und in welchem der umliegenden Berge könnten die Kinder verschwunden sein? Die Bürger von Hameln wissen es auch nicht genau.Seit Jahrhunderten wird ihre Stadt von der Sage des Rattenfängers wie von einer zweiten Heimsuchung in Besitz genommen.Es gibt eine "Rattenfängerhalle", ein "Rattenfängerhaus", ein "Rattenfänger-Figuren-Umlaufspiel" sowie die "Rattenfänger-Freiluftspiele" und im Sommer läuft ein leibhaftiger Rattenfänger durch die Gassen der Altstadt, um an den Kinderraub vor 715 Jahren zu erinnern.Für Hameln ist diese Plage ein Segen.Denn die 60 000 Einwohner zählende Gemeinde empfängt im Jahr zwei Millionen Besucher, die immerhin 100 Millionen Mark ausgeben und etwa 1300 Arbeitsplätze (acht bis zehn Prozent) sichern.Kein Wunder, daß die Stadtväter sich alle Mühe geben, den Mythos nicht versiegen zu lassen.

Auf einer anderen Bühne in einer anderen Stadt vollzieht sich ein ähnliches Schauspiel.Ein Fremder steht auf einer Empore und starrt auf einen Punkt, der sich irgendwo oberhalb des ersten Ranges befindet.Seine Augen sind aufgerissen und von einem endlosen Wachtraum entstellt."Ich bin nicht tot", klagt er mit deutlich holländischem Akzent, während er eine lange Stahltreppe hinabtaumelt - noch ein Wesen, das zur Legende verdammt ist: der "fliegende Holländer".Im Rostocker Volkstheater heißt dieser ewig zwischen den Welten wandelnde Seemann etwas modisch "C-Man" (gesprochen wie "seaman").Aber in einer Hafenstadt, in der es kaum noch Seeleute gibt, muß man sich für die alten Stoffe nach neuen Perspektiven umsehen.So steht das "C" für "Cyberworld" und aus Wagners romantischem Opernwerk ist ein schräges Punk-Musical geworden.Die beiden Stadttheater in Hameln und Rostock beweisen Mut.Denn sowohl "Der Rattenfänger" von Wolfgang Heinzel (Musik) und Martin Trautwein (Libretto nach dem gleichnamigen Stück von Carl Zuckmayer), als auch "C-Man" von Cong Su (Musik) und Ulfert Becker (Libretto) sind Auftragswerke für Bühnen, die sich solche Experimente eigentlich nicht leisten können.Sie versuchen trotzdem, einen volkstümlichen Stoff mit den Mitteln des Musicals in die Gegenwart zu übertragen und im regionalen Kontext zu verankern.Mit allen Risiken, die ein solch aufwendiges Vorhaben in sich birgt.So blickt die Hansestadt Rostock, die einmal als Handelstor Osteuropas galt, verschämt auf die letzten Reste einer großen Seefahrertradition und möchte sich vielleicht nicht gerne an den Ruhm vergangener Tage erinnern lassen, als die Stadt mit fast 400 Schiffen über die größte Flotte der Ostsee verfügte.Wenn die Fährverbindungen nach Skandinavien nicht wären, Rostocks Seelage würde sich heute auf einen schönen Ausblick beschränken.Von den 10 000 bis nach der Wende im Hafen beschäftigten Arbeitern und Fischern, sind lediglich 400 übriggeblieben, der Umsatz hat sich in diesen Bereichen seit 1991 halbiert, die Arbeitslosenquote liegt bei etwa 20 Prozent.Die Kaianlagen sind verwaist, die Schiffe fahren woanders hin.Auch der Zuschauerraum des Volkstheaters ist nicht einmal zu einem Drittel gefüllt (162 Besucher), viel zu wenig für ein Stück, das erst zum dritten Mal aufgeführt wird.

Durch die Partitur des "C-Man" weht ein eisiger Wind.Glockenschläge kündigen den Ablauf der Frist an, nach der dem rastlos umherirrenden Kapitän gestattet sein wird, wieder Land zu betreten, um endlich von der Liebe einer Frau erlöst zu werden.Es verschlägt den Leidgeprüften nach Balsora, wo ein ekelhafter, speichelspuckender Tyrann eine Schreckensherrschaft errichtet hat.Die Stadt verharrt wie gelähmt in einem rasenden, lauten und exzentrischen Stillstand.Denn sie ist von einem tosenden Wasserwall eingeschlossen, den noch kein Mensch zu durchdringen vermochte.So wird die Ankunft des geheimnisvollen Schiffes zu einem Hoffnungszeichen, einem "Glanz im Daten-Dunkel", wie die Edelhure Nixe beschwörend singt, das sie ihrem Schicksal entreißen könnte.Zwei Städte beugen sich unter das Joch der Despotie, der Verdammte kommt zu den Trostlosen.In Rostock lehrt er sie nichts, sondern verfällt selbst einem düsteren Schweigen, das sich in ebenso düsteren Selbstanklagen Luft zu machen versucht.Der Regisseur Volker Metzler hat mit zahlreichen Tücken zu kämpfen, deren schwerwiegendste die eklatante Handlungsarmut einer trotz allem verworrenen Geschichte ist.So entwirft er eine bis zur Unanständigkeit derbe Endzeit-Parabel, die nicht an apokalyptischen Motiven spart, um die allgemeine Verruchtheit zu bekräftigen und der Wagnerschen Liebeserlösung verständlicherweise nichts mehr abgewinnen kann.Die Musik schwankt zwischen seichten Pop-Balladen und zerklüfteten Akkordgemälden, die kaum für dramatische Spannungsbögen sorgen.

In Hameln dagegen ist der allseits mit Mißtrauen beäugte Sonderling eine Lichtgestalt - ein Freigeist und Wahrheitsbringer.Denn die Not der Stadt hat hier soziale Ursachen.Sie macht die Armen immer ärmer und die Reichen reicher, so daß die Stadtherren zunächst ein geschäftliches Interesse an der Rattenschwemme besitzen.Erst als die Nager den eigenen Kornreserven zu Leibe rücken, wird der Vagabund mit der Zauberflöte engagiert, auf dessen Klang sie auch zu seiner eigenen Verwunderung besonders hingebungsvoll reagieren.So wird aus seiner Heldentat ein Wunder der Natur und ein revolutionärer Akt zugleich.Als die Stadtväter begreifen, wie gefährlich ihnen dieser Verführer werden könnte, wollen sie ihn erhängen und würden es tun - wären da nicht die Kinder.Der Verdammte kommt zu den Trostlosen.In Hameln lehrt er sie, aufzubegehren und das Lügengespinst falscher Tugenden wie einen gordischen Knoten zu durchschlagen.Als er schließlich auf dem Schafott steht, eilen die Kinder herbei und befreien ihren Befreier.Am Ende wandert er durch dampfende Nebelschwaden davon.

KAI MÜLLER

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