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Kultur: Strahlendes Blau

Christian Thielemann mit den Philharmonikern.

Was ist das für ein Summen und Brummen in den Foyers der Philharmonie! Die Leute scheinen extra früh gekommen zu sein, auch wirkt es, als hätten sich heute alle festlicher angezogen als üblich. Christian Thielemann dirigiert sein zweites Programm in Folge mit den Berliner Philharmonikern. Vergangene Woche gab es Strauss und Bruckner, also Thielemann’sches Kernrepertoire. Diesmal wird das Orchester Tschaikowsky, Messiaen und Debussy spielen, Werke, die man so gar nicht mit dem Wagnerversteher und Meister des schweren deutschen romantischen Repertoires in Verbindung bringt.

Doch Thielemanns stilistische Beschränkung ist eine freiwillige, sein kapellmeisterlicher Kanon gehorcht allein der privaten Lust. Denn er kann alles dirigieren, wie er an diesem Abend eindrucksvoll unter Beweis stellt. Überraschend schon, wie er „Nuages“ angeht, das eröffnende Stück aus Debussys Tongemälde-Trias „Nocturnes“. Ein Spiel mit Grauschattierungen ist man hier gewohnt, atmosphärisch nah am dritten „Tristan“-Akt. Thielemann aber blickt lieber in einen heiteren Himmel, bei ihm leuchten sommerliche Farben: Kumuluswolken vor Azur, am Nachmittag eines Fauns. Der Saal hält den Atem an – und muss dann erst einmal kräftig husten.

Recht gesittet geraten die „Fêtes“, bei den „Sirènes“ klingen die Damen des RiAS-Kammerchors zu korrekt, dafür zittern Wellen der Erregung durchs Orchester, unzweieindeutig, doch kein bisschen vulgär.

Um eine drohende Überlänge des Abends abzuwenden, lässt sich Thielemann nun in seinem Berliner Wachtmeistertonfall vernehmen, habe man Messiaens „Poèmes pour Mi“ spontan halbiert. Die vier verbliebenen Lieder singt Jane Archibald betörend klar, in perfektem Französisch, eine Rätselfrau mit Elfenbeinhaut, beschienen vom monochromen Silberglanz, den Thielemann dieser Art-Déco-Musik gibt. Beim Applaus verliert die Sopranistin einen Schuh – und kickt den anderen gleich hinterher. Bezaubernde Blessuren des Konzertrituals.

Nicht um Klangrausch geht es dem auswendig dirigierenden Maestro in Tschaikowksys „Pathéthique“, sondern allein um die inneren Spannungen der Musik. Sensationell, wie er im Kopfsatz die Bögen schlägt! Das folgende Allegro ist pure Grazie (was sich über Thielemanns Gestik ja nicht sagen lässt), der Geschwindmarsch hat Gardemaß. Und dann stürzt das Adagio in Abgründe der Intimität, dass man die These vom Selbstmord des Komponisten sofort glauben muss. Erschütternd. Unvergesslich. Frederik Hanssen

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