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Kultur: Subtile Spiele

„Glück und Scherben“: Reinhard Baumgarts neue Erzählungen

LITERATUR

Über den Zusammenhang zwischen Scherben und Glück hat der Volksmund seine vielzitierte Weisheit formuliert, der unbedingt zu misstrauen ist. Dass auf das eine das andere folge, mag einem abergläubischen Zeitgenossen zum Trost gereichen. Einem erfahrenen Leser und Schriftsteller wie Reinhard Baumgart jedoch, der in seinem neuen Erzählband ausschließlich problematische Beziehungsgeflechte zwischen Mann und Frau moderiert, ist damit nicht geholfen. Und so hält er schon im Titel den vermeintlichen Zusammenhang zwischen beiden Elementen in der Schwebe: „Glück und Scherben“.

Baumgarts Geschichten sind glänzend geschrieben. Der 73-jährige Literaturwissenschaftler, Kritiker und Essayist legt zum ersten Mal seit vielen Jahren wieder erzählerische Prosa vor. In nonchalant-ironischem Ton wird dem Leser eine Vielzahl von Figuren unterschiedlichen Alters und unterschiedlichen Geschlechts vorgeführt, die vor allem mit sich selbst beschäftigt sind. Ein alter Mann meditiert im Rahmen seiner „Weltordnungsversuche“ über Ort, Zeitpunkt und Empfängerin seines ersten Kusses, wobei die Erinnerungsarbeit schnell zur Träumerei verschwimmt. Die Erzählung „Clara! Clara!“ beginnt wie ein Krimi und entpuppt sich bald als Schlüsselerlebnis eines homo faber. Auf der Folie einer alten Geschichte gibt sich schließlich in einer weiteren Erzählung ein Paar einem bizarren Spiel hin, bei dem die Frau in die Rolle einer Gelähmten schlüpft – köstlich, wie hier das Pygmalion-Motiv in einem Setting verankert wird, das auch an Hitchcocks „Fenster zum Hof“ gemahnt.

Verabreicht werden diese fein gesponnenen Prosa-Arbeiten in wohldosierter Form: auf eine kurze folgt jeweils eine lange Geschichte. Letztere wirken ambitionierter, in der Art der erzählerischen Bewältigung sind sie bisweilen sogar experimentell gestaltet. In der Titelgeschichte versammelt Baumgart Fragmente einer Sprache der Liebesanalyse. Der allen Texten in diesem Erzählband zugemutete Gattungsbegriff „Geschichte“ muss hier wohl ironisch aufgefasst werden. Denn der dort vorgeführte Sprecher verzichtet in seinem inneren Monolog gänzlich auf Orientierung, Ablauf und Zusammenhang – statt dessen nur nackte, abstrakte Reflexion über Gelingen und Scheitern, Glück und Unglück einer unmöglich werdenden Beziehung.

Dieses Bruchstück einer Liebesgeschichte offenbart am deutlichsten eine Gefahr, der die längeren Erzählungen dieses Bandes stärker ausgesetzt sind als die kürzeren – die Gratwanderung zwischen gut gedacht und gut gemacht. Das zergliedernde Verfahren in der Titelerzählung ufert doch ein wenig aus, woran auch eine hübsche Schlusspointe nichts mehr ändern kann. Letztere freilich erinnert daran, dass Reinhard Baumgart dennoch mit seinen Geschichten erneut eines unter Beweis stellt: dass man auch als Literaturkritiker und -wissenschaftler zugleich ein hoch respektabler und noch dazu charmanter Erzähler mit viel Sinn für subtile Dramaturgien sein kann.

Reinhard Baumgart: Glück und Scherben. Drei lange Geschichten, vier kurze. Hanser, München 2002. 192 Seiten, 17,90 €.

Oliver Fink

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