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Kultur: Süßer Tod

Jürgen Flimm holt Katie Mitchells bildmächtige Inszenierung von Luigi Nonos „Al gran sole carico d’amore“ ins Kraftwerk Mitte.

Oper ist nichts für Vernünftige. In ihrem Anspruch, eine eigene Welt rund um ein Gravitationszentrum aus Musik zu errichten, setzt sie wie selbstverständlich Abend für Abend Hundertschaften in Gang, unterhält hochspezialisierte Häuser und beansprucht üppige Budgets für sich. Oper entzieht sich konkretem Renditedenken, Vorsorgeplänen und Bausparverträgen. Dafür erwischt sie uns im besten Falle dort, wo wir von aller Ratio verlassen sind.

Kaum jemand weiß diesen Mechanismus so jovial und kaltschnäuzig zu nutzen wie Jürgen Flimm. Als er mit seinem Staatsopernensemble das sanierungsbedürftige Haus Unter den Linden verließ und per Schiff gen Westen, Richtung Schillertheater steuerte, trug er schon die Idee im Gepäck, auch die frisch instandgesetzte Hülle des Ausweichquartiers zu sprengen. Nachdem sich Berlin unter Schmerzen damit abgefunden hatte, nicht jeden Abend mit seinen drei Opernhäusern zu hadern, plante er unter der Hand ein viertes. Nahe der ewigen Spree und der ehemaligen Mauer wurde Flimmcarraldo fündig, mitten im Club-Dschungel der Hauptstadt. In das 1997 vom Netz gegangene Heizkraftwerk Mitte ließ er ein komplettes Musiktheater einbauen, über Abgründe von Stahlbeton hinweg, ohne Angst vor finanziellen Abstürzen. Für die Produktion in der Wildnis fanden sich Staatsopernfreunde und Hauptstadtkulturfonds als großzügige Finanziers. Ein Intendanten-Kunststück, ganz ohne die Aussicht auf einen Auftritt von Caruso.

Unter einem gewaltigen 80-Tonnen- Kran, zwischen vormaligen Kühlbecken und auf dem abgeräumten Turbinentisch öffnet sich an nur fünf Abenden eine Bühne für Luigi Nonos azione scenica „Al gran sole carico d'amore“. Die Inszenierung der Britin Katie Mitchell entstand bereits vor drei Jahren für die Salzburger Felsenreitschule mit ihrer Monumentalbreitwandbühne.

Flimm, dessen erste Opernregie 1978 die deutsche Erstaufführung von „Al gran sole“ in Frankfurt war, eröffnet sein eigenes Teatro Nono. Es zu betreten erfordert Trittsicherheit und Freiheit von Schwindel, so steil führen die Treppen hinan und durch den alten roten Samtvorhang der Staatsoper auf eine ausladende Tribüne. Sie bietet gute Sicht auf ein überraschend konservatives Bühnenlayout: Nach dem ausgedehnten Orchestergraben beginnt die Bühne, auf ihr finden sich fünf Miniaturfilmstudios, über ihr eine Leinwand, links und rechts davon sind wie in Proszeniumslogen Schlagwerkbatterien und Chor platziert.

Der Blick ist gerichtet, geradeaus, und bleibt zwangsläufig am überlebensgroßen Bild hängen. Auf 16 Metern Breite wird projiziert, was unten in den Studios im Dunklen wuselnde Kameraleute eingefangen haben, virtuos abgemischt mit vorproduziertem Videomaterial. Ein Film entsteht, ein Biopic, Nonos Zitatenstrom abgelauscht, zusammengefügt aus Lebenssplittern von fünf realen und fiktiven Frauen, die ihr Dasein der Idee des Kommunismus widmeten, opferten. Ihrem Andenken hat Nono keine Revolutionsoper gesetzt, sondern vielmehr ein Requiem.

In der Pariser Commune, im revolutionären Russland, in Bolivien oder Turin: Frauen entscheiden sich zum Widerstand, und durch alle Verrichtungen zieht sich das Rituelle letzter Handgriffe. „Für dieses weite und aufgerüttelte Herz, trunken von Solidarität, ist die einzig atembare Luft die Menschenliebe“, schreibt die Barrikadenkämpferin Louise Michel. Doch diese Luft ist rar, schwindet immer mehr. Was bleibt, sind Erinnerungsstücke in einem verfallenen Kommunistinnen-Museum. Die naturalistische Bilderlawine, die Mitchell und ihr Videoregisseur Leo Warner lostreten, legt sich wie Mehltau über die Bühne und begräbt ihren undurchsichtigen Entstehungsprozess mit unter sich.

Mehr noch: Sie droht Nonos Musik weich zu zeichnen, bückt sie in die dienende Rolle eines Effektverstärkers mit Thrillerfunktion. Weder in diesem mit viel Aufwand domestizierten Industriebau, noch in den unendlich ausgetüftelten Bildfolgen aber steckt das Mark dieses Abends. Das Mysterium lebt in Nonos Klangsprache, die dem Meer gleicht, mit seiner gespannten Stille, seinen Wellen, die alles Gegenständliche auflösen und im Fluss halten, unaufhörlich. Und die Erinnerung bewahren an alle, die hoffen an den Küsten, durch die Zeiten hinweg.

Mit Ingo Metzmacher wacht ein umsichtiger Dirigent über die Partitur des Venezianers, die trotz des harten Takts der Unterdrückungsmaschinerie den Klang immer wieder aufbricht und für das Zarte, das dolcissimo, atmet. Die großbesetzte Staatskapelle flicht engmaschigste Klangwände und hält souverän die Spannung aus. Der Staatsopernchor unter Eberhard Friedrich kann sich mit Nelke im Knopfloch ganz auf seinen fordernden Part konzentrieren, von darstellerischen Aufgaben weitgehend entbunden ebenso wie die treffsicheren Gesangssolisten.

Nono hat sein Werk nach der Uraufführung einmal selbstkritisch als „großen Elefant der Mittel“ bezeichnet – und die ihm dadurch innewohnende Begrenzung bedauert. Flimm ist es mit massivem Mehreinsatz der Mittel nicht gelungen, aus „Al gran sole“ eine schillernde Opernfliege zu machen. Das ist die gute Nachricht für Musikenthusiasten. Und die ernüchternde für alle, die hier auf Eventspekulation gesetzt haben. Auf Wiederhören in der Philharmonie, Luigi.

Alle Aufführungen sind ausverkauft.

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