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Kultur: Tanz im August: Rote Ohren

Wissen Sie noch, was Scham ist? Diese Gefühlsregung soll ja verloren gegangen sein.

Wissen Sie noch, was Scham ist? Diese Gefühlsregung soll ja verloren gegangen sein. Selbstentblößungsorgien im Fernsehen und web cams, die im Internet den Verlust jeder Intimssphäre suggerieren, haben uns zu Voyeuren degradiert. So sagt man. Doch der Solo-Auftritt von Astrid Endruweit in Michael Laubs Inszenierung "pigg in hell" bei "Tanz im August" dreht den Spieß um. Ihre zuckenden Bewegung auf allen Vieren, das vibrierende Becken können nur naive Seelen mit medizinischer Halbbildung für epileptische Anfälle halten. Schamesröte kribbelt in den Ohren. Hat Laub, der bereits einen Ex-Hooligan und eine ehemalige Gabelstaplerfahrerin auf der Bühne porträtierte, dem Publikum wiederum eine Bühnenamateurin zum Gaffen vorgeworfen? So zierlich Endruweit, die Butoh tanzende Heimerzieherin und in Sinologie erfahrene Golfartikelverkäuferin, auch scheint - was man sieht, ist ihre Ekstase, ihr Körper, ihre Stärke. Daran besteht kein Zweifel.

Laub arrangiert die Ausbrüche seiner Darstellerin zu einer Choreografie der Bruchstücke, setzt Einschnitte durch Tonblenden, ordnet Wiederholungen an. Und ihm gelingt dabei ein kleines Wunder: Man sehnt sich plötzlich nach Sprache, einer Ebene zwischen den Körpern. Der Voyeur will reden. Doch nur die Stimme Endruweits ist zu hören: tonloses Verwunderung über Pubertätskörper und die Gewalt fremder Männer. Ein Klang, den man nicht mehr vergisst.

Ach ja. Dieser Abend war ein so genanntes "Double Feature". Zu Beginn ließ das Moskauer Saira Blanche Theater unter dem Titel "Thirst" zwei Fische an Schnüren im stickig-heißen Raum baumeln. Das sah exotisch und Besorgnis erregend zugleich aus. Der Tanz der Russen hingegen war gänzlich frei von Assoziationsmomenten. Lediglich ein schemenhaftes Gefälle zwischen Männern und Frau zeichnete sich ab: Während die zwei Tänzer andauernd irgendwie mit sich selbst beschäftigt waren, versuchte Evguenia Andrianova zwischen ihnen zu pendeln. Ein aussichtsloses Unterfangen, von der jungen Frau mit einem Gesichtsausdruck quittiert, der sie mindestens 20 Jahre älter aussehen ließ. Dabei war gerade mal eine halbe Stunde vergangen.

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