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Kultur: Tanz in den Triumph

Von Ulrich Fischer Eric Lacascade und sein Ensemble aus Caen eröffneten das diesjährige Festival d’Avignon im riesigen Ehrenhof des Papstpalastes mit Anton Tschechows Jugendstück „Platonov“. Die Truppe aus der Normandie spielt in einer über fünfstündigen Inszenierung heraus, was Tschechows Menschen- und Gesellschaftsbilder bis heute ganz gegenwärtig erscheinen lässt: die Kritik an Leuten, die lautstark beteuern, sich nach dem Leben, dem wahren Leben zu sehnen – die Erfüllung ihres Herzenswunsches jedoch von anderen erwarten.

Von Ulrich Fischer

Eric Lacascade und sein Ensemble aus Caen eröffneten das diesjährige Festival d’Avignon im riesigen Ehrenhof des Papstpalastes mit Anton Tschechows Jugendstück „Platonov“. Die Truppe aus der Normandie spielt in einer über fünfstündigen Inszenierung heraus, was Tschechows Menschen- und Gesellschaftsbilder bis heute ganz gegenwärtig erscheinen lässt: die Kritik an Leuten, die lautstark beteuern, sich nach dem Leben, dem wahren Leben zu sehnen – die Erfüllung ihres Herzenswunsches jedoch von anderen erwarten.

Lacascade und sein Ensemble gehören nicht zum Bühnenadel Frankreichs, im Publikum gab es spürbar Ressentiments gegen die Parvenus, die sich anmaßten, im Ehrenhof des Papstpalastes aufzutreten, dort, wo in über 50 Jahren die Großen der Szene, von Jean Vilar bis Ariane Mnouchkine, ihre Freilichtbühne hatten. Bald begannen erste Zuschauer zu gehen, nach einem Feuerwerk, pünktlich um Mitternacht, keinem echten, einem Theaterfeuerwerk mit Plastikschnipseln und Scheinwerfereffekten, wurde aus dem Rinnsal der Protestierer ein Strom - dann machte ein Sommerregen den Kampfplatz unübersichtlich. Bald wusste niemand, wie viele Zuschauer aus Protest, wie viele des Wetters wegen gegangen waren. Der Rest blieb bis zum Ende nach drei Uhr früh und applaudierte begeistert. Lacascade war, trotz einiger formaler Effekthaschereien, Tschechows manchmal ausufernder Ballade vom verfehlten Lieben und Leben mit beeindruckender Insistenz gefolgt.

Konzentrierter als in Vorjahren wirkt das Festival in diesem Sommer. Das gilt nicht nur für die einzelnen Inszenierungen, das gilt auch für die Planung der drei Festwochen insgesamt. Festivalleiter Bernard Faivre d’Arcier präsentiert in diesem Jahr weniger Inszenierungen als letztes Jahr. „37 Produktionen“, sagt Faivre d’Arcier, „das ist genug, um statt der Zahl der Inszenierungen die Frequenz der Aufführungen zu steigern, damit mehr Zuschauer die einzelnen Produktionen sehen können.“

Die Mischung war bunt, von Brechts „Galileo Galilei“ über George Taboris Junghitler-Farce „Mein Kampf“ bis Sarah Kanes blutigem „Gesäubert“. Eine besondere Verbeugung gegenüber deutschen Dramatikern kam aus Montpellier: Jean-Claude Fall inszenenierte Bertolt Brechts „Maßnahme“ - und, gleich danach, ohne Pause, „Mauser“ von Heiner Müller. Müller hatte „Mauser“ ja als Antwort auf die jahrzehntelang von den Brecht-Erben für Aufführungen gesperrte „Maßnahme“ geschrieben.

Zunächst sitzen auf der Bühne fast fünfzig Akteure, links das Orchester, rechts der Chor; sie repräsentieren die Kommunistische Partei, ihnen legen vier junge Genossen eine Frage vor: Durften sie ihren Mitstreiter umbringen? Brecht spitzt die Frage zu: Ist es erlaubt, für ein politisches Ideal zu töten? In der 1930 entstandenen „Maßnahme“ sieht der junge Genosse ein, dass sein Tod der Revolution dient und stimmt der eigenen Hinrichtung zu.

Bis hierhin wirkte die Geschichte, als läge viel Staub auf ihr, doch dann wird sie auf einmal lebendig: Die Chor- und Orchestermitglieder erheben sich, nachdem sie den Tod des jungen Genossen gebilligt haben, und verlassen die Bühne. Das Bild ist unmissverständlich: So haben viele Kommunisten der Partei (oder der Realität) den Rücken gekehrt, nachdem sie mit dem Zweck jedes Mittel geheiligt hatten.

Müllers „Mauser“ spielt später, nachdem die Revolution gesiegt hat. Doch noch toben Kämpfe, ein Revolutionär hat die Aufgabe, die Feinde der Revolution zu erschießen, mit seiner Mauser. Er beginnt zu zweifeln - und wird zum Tod verurteilt. Jean-Claude Falls personenreiche Inszenierung beweist die dramatische Wirksamkeit beider Texte: als Oratorien und Lehrstücke, die in ihrer heißkalten Moraldebatte über die simple Einsicht, dass die Revolution ihre Kinder frisst, hinausgehen.

Auch das vorletzte Stück von Botho Strauß ist in Avignon zu sehen, „Der Narr und seine Frau heute abend in Pancomedia“, ein grässlicher Flop. Die französische Erstaufführung wirkt wie eine läppische Komödie, nicht zu vergleichen mit Mattias Hartmanns brillanter Uraufführung vor zwei Jahren in Bochum.

Eine der reizvollsten Spielstätten des Festivals in Avignon liegt außerhalb der mittelalterlichen Stadtmauern: in Boulbon, inmitten eines Steinbruchs. Die Freilicht-Szenerie ist legendendär, seit Peter Brook hier 1985 das indische Nationalepos „Mahabarata“ inszenierte. In diesem Jahr ein kaum weniger ehrgeiziges Projekt : „Das Alexandria-Quartett“, eine Bühnenadaption der gleichnamigen Romantetralogie von Lawrence Durrell. Stuart Seides Theatralisierung aber gelingt es nicht wie Durrells Prosa, die mediterrane, europäisch-afrikanische Atmosphäre Alexandrias zu beschwören, in der alles Gewisse verschwimmt und fraglich wird.

„Les Aveugles“, „Die Blinden“ von Maurice Maeterlick, sind Denis Marleau vom Théatre Ubu aus Montréal, über alle Maßen geglückt, Marleau verwendet Videoelemente und versteht seine Inszenierung treffend als „technologische Fantasmagorie“ ein. Innovativ, formale Fantasie, verbunden mit dramaturgischer Disziplin, die den Kern der geheimnisvollen Maeterlick-Fabel bewahrt und aktuell deutet. Aus Berlin schließlich kamen Sasha Waltz und ihre Schaubühnen-Tänzer; sie wurden bejubelt für „noBody“, und das nicht noWhere, sondern auf der Hauptbühne im Ehrenhof des alten Papstpalastes. Ein Triumph des Festivals.

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