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Der Grieche Teodor Currentzis ist als Dirigent eine Ausnahmeerscheinung im Klassikbetrieb.

© Stephan Rabold/Berliner Philharmoniker

Teodor Currentzis und MusicAeterna: Im Bann der Stimmen

Gesänge hinter Mauern: Teodor Currentzis und MusicAeterna mit Philippe Hersants Gefängnis-Oratorium „Tristia“ im Berliner Kammermusiksaal.

Ein irrer Ruf eilt ihm voraus, diesem Griechen aus dem sibirischen Perm. Ein Guru sei er, ein Berserker und Besessener, ein Sonnenkönig, ein Genie im besten Fall, ein eitler Geck mit Schlapphut und Bommeln auf dem Schuhwerk im schlechtesten. Der Dirigent Teodor Currentzis, 1972 in Athen geboren und seit 2011 mit seiner Chor- und Orchesterformation MusicAeterna im Nordosten Russlands ansässig, wo er zudem das Opern- und Balletttheater leitet, ist derzeit die Ausnahmeerscheinung im Klassikbetrieb. Seine Auftritte und CD-Einspielungen (demnächst: Mahlers Sechste) sind gefeiert und umstritten, wegen ihrer Kompromisslosigkeit, ihrem Mut zum Extrem, aber eben auch ihrer Neigung zur Effekthascherei.

Spätestens seit Currentzis im September dieses Jahres sein Amt als Chefdirigent des unfreiwillig fusionierten SWR Symphonieorchesters antrat und beim Antrittskonzert auch in Stuttgart Lorbeeren erntete, ist die Neugier auf den Exzentriker hierzulande noch einmal gestiegen. Und die Skepsis auch. Spielt der 44-jährige Maestro nicht die Hauptrolle in den geheimnisumwitterten „Dau“-Filmen des russischen Regisseurs Ilya Khrzhanovsky, dessen geplantes und vorerst geplatztes Berliner „Dau“-Projekt für heftigen Streit gesorgt hatte?

Wenn Currentzis dann mit den MusicAeterna-Sängern und -Instrumentalisten im Kammermusiksaal steht (ja, mit Röhrenjeans und Lackschuhen, aber sonst ohne jedes Gedöns), ist die Aufregung wie weggeblasen. Es dauert eine Viertelstunde, bis nach zunehmenden Unmut im Publikum das Licht verlöscht. Klassik im Dunkeln? Die Routine aufmischen, warum eigentlich nicht. Auf dem Programm steht Philippe Hersants Chorwerk „Tristia“, die Vertonung von Sträflings-Gedichten aus dem ehemaligen Staatsgefängnis und einstigen Massenkerker in der französischen Zisterzienser-Abtei Clairvaux sowie von Versen sowjetischer Gulag-Opfer, Ossip Mandelstam oder Warlam Schalamow. Perm war selbst eine Gulag-Stadt, das dortige Gulag-Museum ist das einzige seiner Art.

Ein Akkordeon spielt auf, eine Mundharmonika, es sind die Instrumente der armen Leute. Ein Sprecher (der ehemalige Lagerinsasse Michael Meylac) erscheint im Publikum, er liest ein Prosastück von Schalamow, „Der Pfad“, über Inspiration und Einsamkeit. Verlorene Rufe im Halbdunkel, schwarz gewandete Menschen schreiten aufs Podium, bald füllen sie den Raum mit ihrem glasklaren, kehligen Gesang, sammeln sich mit dem Rücken zum Publikum im Kreis, um bald wieder auszuschwärmen, ringsum in den Saal. Wie die Musiker auch, die Sologeige steht in Block C, das Fagott oben auf der höchsten Empore. Effekthascherei? Unmöglich, sich dem Bann dieses Klagegesangs zu entziehen, es trifft einen ins Mark. Der Konzertsaal mutiert zum magischen Ort, zur Kirche eines abwesenden Gottes mit einem Gewölbe aus Stimmen.

Currentzis dirigiert mit tanzenden Armen und Segensgesten

Geschlossene Augen, ummauertes Leben, graue Wände, grauer Himmel. Der Traum vom Schmetterling, vom Fliegen, von der Freiheit. Die Verse erklingen auf Französisch und Russisch, von Vokalisen, Flüster-Kanons und chaotischem Stimmengewirr durchsetzt. Hersants 2016 uraufgeführte Komposition feiert zwischen Gregorianik, Pentatonik und chromatischem Farbenspiel immer wieder die Reinheit eines Dur-Dreiklangs, versetzt Wiegenlieder und Walzer, Trink- und Marschlieder mit der Archaik einer leeren Quarte oder Quinte. Zwiegesänge wechseln mit kollektiven Evokationen, dröhnende Bässe mit kecken Countertenören und eindringlichem hohen Sopranen oder einander umschlingenden Engelsrufen.

Zeremonienmeister: Teodor Currenzis im Kreis der Sänger von MusicAeterna. Ihr Gesang ist bezwingend, er hat etwas Kultisches.
Zeremonienmeister: Teodor Currenzis im Kreis der Sänger von MusicAeterna. Ihr Gesang ist bezwingend, er hat etwas Kultisches.

© Stephan Rabold/Berliner Philharmoniker

Jede der 34 Miniaturen ist anders instrumentiert. Mit Cello-Arpeggien, martialischen Trommeln samt Blech, raffiniert klackernden Metronomen, einer armenischen Duduk und Röhrenglocken zum Schluss. Currentzis steht als Zeremonienmeister im Zentrum, ein hochgewachsener Schlacks, hochkonzentriert, bezwingend, mit tanzenden Armen und mitunter herrischen Gesten, die Finger wie zum kirchlichen Segen gekrümmt. Der Dirigent als Patriarch, und die Musik als Anrufung, Beschwörung, Halluzinogen. Man kennt das von bulgarischen Frauenchören, von russisch-orthodoxen Gesängen. Aber es ist ein Ritus ohne jede Frömmelei. Kunst kommt von Kult – und nimmt sich die Freiheit dabei.

Currentzis’ Arbeit in Perm wird teils staatlich finanziert; MusicAeterna unterstützt der russische Oligarch Sergej Adonjew. Wie hält der Dirigent es mit der Obrigkeit? „Alles ist korrupt, wir kennen das seit mehr als 1000 Jahren“, schrieb er im Programmheft zur Uraufführung. „Wir müssen auf die Freiheit in unserm Leben achtgeben. Sie ist das Kostbarste, was wir haben.“ Currentzis hat sich auch für den Regisseur Kirill Serebrennikow eingesetzt, dem ähnlich wie Oleg Senzow nach fadenscheiniger Anklage eine lange Haftstrafe droht.

Das strenge Regiment, das Currentzis als Musiker walten lässt, möchte man aber nicht missen. Anders könnte der Gesang seine Macht nicht entfalten.

Am 5. Dezember gastieren Currentzis und MusicAeterna in der Berliner Philharmonie, mit Gustav Mahlers 4. Symphonie.

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