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© David Baltzer/ Zenit

Theater: Am Abgrund: Nachtgestalten auf der Studiobühne

Harte Schale, weicher Kern. Die Figuren in Helmut Kraussers "Haltestelle. Geister" trumpfen auf, sind aber zerbrechlich. Den Zuschauer erwarten schnelle Szenen, durchgeknallte Typen und perverse Sprüche, die garantiert nicht jugendfrei sind.

Eine Begegnung im nächtlichen Berlin: Ein junges Mädchen, das sich für eine Prinzessin hält, und ein Imbissbudenbesitzer treffen an einer Bushaltestelle aufeinander. Der Ton der Unterhaltung ist rau - ein Schutzmechanismus, denn eigentlich sehnen sie sich nach Liebe und Geborgenheit. Auch die drei frechen Gören, die cool sein wollen, aber billige Drogen nehmen, sind weder zu Empathie noch sozialem Verhalten fähig. Dem alten, vermeintlich reichen Mann, rauben sie sein Geld, obwohl er nur etwas Freundlichkeit möchte. "Ich bin nicht reich, aber du bist arm", klagt der Mann eines der Mädchen an.

Arm sind die Figuren tatsächlich, die die Regisseurin Beatrice Murmann und der Dramaturg Alf Dobbert in dem Stück "Haltestelle. Geister" von Helmut Krausser auf die Studiobühne der FU schicken. Ziemlich verblödet wirken die meisten, alle leiden unter Zwangsstörungen absurden Ausmaßes, die recht dick aufgetragen sind. Ein sparsamerer Einsatz hätte wohl auch funktioniert. Immerhin: Die Tics führen vor Augen, dass diese unwirschen Figuren im Abseits stehen, dem existenziellen Abgrund nahe sind.

Das zunächst kleinteilig aufgebaute Stück gibt jeder Begegnung ihren eigenen Platz. Die schnellen Wechsel unterstreichen das Unstetige, das Vage. Langsam legt sich jedoch ein Netz auf die aus allen Schichten stammenden Protagonisten, wickelt sie ein und erzeugt Zusammengehörigkeit. Der gemeinsame Nenner ist größer als erwartet.

Der Dealer im Mittelpunkt der Gesellschaft

Dabei dreht sich das Personenkarussell um den charismatischen Dealer Rico (Oliver Kube), der zwar die Grundregel des Drogenhandels "never get high of your own supply" ignoriert, jedoch auch ordentlich aufdrehen kann. Dass seine weiblichen Kunden die bunten "Glücksbringer" mit Naturalien bezahlen, weist er - mit einer Ausnahme - zurück: "Nur von Frauen wird der Ofen auch nicht warm."

Rico ist der Fixpunkt in einer gesellschaftlichen Sphäre, in der die Menschen der Realität entfliehen wollen. So wie der Online-Chater, der enttäuscht ist, dass seine Internet-Eroberung zum ersten Date nicht auftaucht. Willkommen in der Wirklichkeit. Es ist das Zerrbild einer kranken Gesellschaft, in der man zwar miteinander spricht, sich aber nicht versteht: Die provozierend perverse Verbalerotik eines Paares, das mit seinen sadistischen Fantasien sämtliche Grenzen des guten Geschmacks weit hinter sich lässt, beweist das.

Die Kulisse in der Studiobühne vermittelt Zeitlosigkeit, die Szenen könnten in jeder Großstadt spielen: Der Boden ist weiß, die Decke ist weiß, die von Ricky Schuchmann entworfenen Kostüme sind weiß - und transparent. Die falsche Maskerade und das aufgesetzte Gehabe werden dadurch, für jedermann sichtbar, zu dem, was sie sind: Eine durchsichtige Strategie, ein Zeichen der Hilflosigkeit in einer Gesellschaft, die verlernt hat, mit Gefühlen umzugehen.

Erst im Jenseits reift die Erkenntnis

Immer wieder durchbrechen kleine Revueeinlagen den Handlungsstrang, den per Videoprojektion eingeblendete Requisiten visuell unterstreichen: Da platzt ein rettendes Schiff in die Szenerie, dessen singende Matrosen Seefahrerromantik und ferne Idylle versprechen. Eine Illusion, die, wie der Tanz einer Seifenblase, nur von kurzer Dauer ist. Da wiegen sich die Personen im Dreivierteltakt des Walzers als gäbe es kein Morgen. Da mündet das süße Gesäusel in eine Hitlerparodie. So offenbart sich eine Welt, in der sämtliche Maßstäbe verloren gegangen sind.

Erst als die Protagonisten mit blutigen Händen nach und nach im Jenseits landen, sehen sie die Möglichkeiten, die das Leben bietet. Zu spät. Verpatzt. Während sie das wirre Treiben und die sinnlose Rastlosigkeit aus der Distanz beobachten, versuchen sie, Einfluss zu nehmen: "Du lebst, du Trottel, mach was draus!" Doch ihre Worte verschallen ungehört und die Angesprochenen sind zur Veränderung nicht fähig.

Bei dem überraschende Eingriff aus dem Off veranschaulicht Edgar Wintersperger, wie grandios man Bühne nutzen kann - erst im Publikum, dann auf der Bühne, rechts, links , drinnen, draußen. Und er demonstriert zugleich, dass es aus der Mutlosigkeit und Fixiertheit auf das Ego, die die Protagonisten wie eine Lähmung umschließt, kein leichtes Entkommen gibt.

Haltestelle. Geister
Studiobühne Ritterstraße
Ritterstraße 12-14
10959 Berlin (Kreuzberg)
Karten: 030-36420709
www.haltestellegeister.de

Weitere Termine: 02.05./03.05./08.05./09.05./10.05. 2008, jeweils 20 Uhr

Sebastian Bühner

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