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Eugen Onegin

© dpa

Theater: Wer im Glaskäfig sitzt

Andrea Breth und Daniel Barenboim radikalisieren "Eugen Onegin" bei den Salzburger Festspielen. Breths Inszenierung spielt im neuen Russland der Großstädte und Kolchosen.

In Russland muss bis heute jedes Schulkind in der siebten Klasse eine Passage aus Puschkins "Eugen Onegin" auswendig lernen: die Mädchen den Brief, den Tatjana in einem nächtlichen Mutanfall dem Mann ihrer Träume schreibt – 1833 ein Skandal. Die Jungs Onegins Antwort: die herzenskalte Replik eines Dandys, der sich hinter der Formulierung verschanzt, er sei nicht fürs Eheleben geschaffen, weil ihm die Offenheit seiner jungen Nachbarin peinlich ist. Grausam wird sich das Blatt für beide wenden: Tatjana heiratet einen uralten General, um sozial versorgt zu sein, Onegin erkennt zu spät, dass er damals den Fehler seines Lebens begangen hat, fleht um Liebe – und wird nun zurückgewiesen.

Puschkins Versdrama ist für die Russen, was "Romeo und Julia" für die Briten oder "Kabale und Liebe" für die Deutschen ist. Während allerdings Shakespeares Stück von den Franzosen Berlioz und Gounod veropert wurde und Schillers Drama vom Italiener Verdi (als "Luisa Miller"), wurde aus "Eugen Onegin" dank Peter Tschaikowsky die russische Nationaloper schlechthin.

Anna Samuil, der jungen Sopranistin aus Moldawien, die seit 2004 zum Ensemble der Berliner Staatsoper gehört und am Sonntag bei den Salzburger Festspielen als Tatjana debütieren durfte, sind beide Stoffe, Roman wie Oper, seit Kindertagen vertraut. Und doch gelingt es ihr im Großen Festspielhaus nicht, die Briefszene zum Herzstück der "Onegin"- Neuinszenierung zu machen. So warm und rein ihr Timbre auch ist, so ebenmäßig sie Kantilenen zu formen, Spitzentöne sicher zu setzen weiß – den inneren Kampf zwischen Konvention und Verlangen, das Nicht-anders-Können und Sich-offenbaren-Müssen der Figur vermag sie nicht so umzusetzen, dass dem Zuschauer die Seele brennt.

Was auch am Regiekonzept von Andrea Breth liegen mag: Die Schauspielfrau und Burgtheater-Regisseurin, die sich in ihrer langen Karriere erst drei Mal an eine Oper gewagt hat, meint nämlich, in Tatjana, der verträumten, bibliophilen Gutsbesitzertochter aus der Provinz, enormes kreatives Potenzial entdeckt zu haben. "Sie ist eine große Leserin, aber ich glaube auch, dass sie eine heimliche Autorin ist", erklärte Breth vorab im Interview. Darum sitzt ihre Tatjana bei der Briefszene in einem Glaskäfig und tippt ihre Gefühle in die Schreibmaschine. Bei eiskaltem Neonlicht. Überhaupt verstört die Beleuchtung an dieser Produktion am meisten: Das Programmheft nennt zwar einen Lightdesigner, Friedrich Rom, aber die Bühne wird fast durchgehend in einer Art ausgeleuchtet, die im Theaterjargon "Arbeitslicht" heißt. Wahlweise grau oder grell. In jedem Fall aber absolut jede Atmosphäre tötend.

Der Unsympath wird zur Identifikationsfigur

Breths "Eugen Onegin" spielt im neuen Russland, Tatjanas Mutter (Renée Morloc) malocht in Unterrock und Kittelschürze ebenso auf der Kolchose wie die Choristen, das Kindermädchen (Emma Sarkissjan) ist eines jener schwarz gekleideten, Pantoffeln tragenden Buckelmütterchen, die heute in den Großstädten bettelnd in U-Bahnhöfen sitzen. Schleierhaft, warum sich da ausgerechnet Tatjana und ihre Schwester Olga dem Müßiggang hingeben dürfen. Mit ihrer Idee, aus der bei Puschkin still an ihrer Liebe leidenden Protagonistin eine geistige Rebellin zu machen, bringt sich Andrea Breth für den Finalakt in Schwierigkeiten: Als Generalsgattin erscheint ihre Tatjana, die eigentlich eine George-Sand-Existenz führen müsste, nun gesellschaftlich viel angepasster als im Roman, wo sie aus purer Not und Notwendigkeit die Vernunftehe eingeht.

Onegin, der Unsympath, wird bei Breth dagegen unbeabsichtigt zur Identifikationsfigur: Plötzlich scheint alles an dem Bassbariton Peter Mattei zu groß, die Arme schlenkernd, die Beine staksig. Der ganze Zynismus, die Weltverachtung sind plötzlich von ihm abgefallen. Wie ein Schnöselliterat, den doch noch die geistige Reife eingeholt hat, sieht er endlich klar, erkennt, worauf es im Leben ankommt. War Mattei, der als unwiderstehlicher "Don Giovanni" von Aix bis New York gefeiert wird, in den beiden ersten Akten als Playboy enttäuschend blass geblieben, dringt er nun tief in Onegins Psyche vor, barmt absolut glaubwürdig, bis er als armes Würstchen zusammengekrümmt in der Ecke liegen bleibt, nachdem Tatjana für immer die Tür zwischen ihnen zugeschlagen hat.

So merkwürdig zwittrig Andrea Breths szenische Deutung wirkt, so radikal einfach ist Daniel Barenboims musikalische Dramaturgie des Abends. "Schöne" Musik gestattet er nur den ehrlichen Seelen: Lenski, dem Onegin-Freund und Dichter, glaubt der Dirigent, und darum wird sein Liebesduett mit Olga (Ekaterina Gubanova) auch von zärtlichsten Streicherkantilenen untermalt, die in ihrer samtenen Morbidezza schon alles kommende Weh voraussagen. Joseph Kaiser ist aber auch eine Idealbesetzung für den Lenski, weil er den lyrischen Sehnsuchtston dieses weltfremden Romantikers genau trifft.

Auch Ferruccio Furlanetto trägt Barenboim auf Händen durch die Arie des Fürsten Gremin, identifiziert sich mit dem spät zur Zweisamkeit bekehrten Krieger. Die ganze übrige Gesellschaft aber klingt krank: Barenboim verhetzt die orchestralen Schmankerl der Partitur, die Mazurka des zweiten wie die Polonaise des dritten Aktes, um die Rohheit des Volkes wie die Oberflächlichkeit der nouveaux riches zu brandmarken. Die Wiener Philharmoniker klingen vom ersten Takt an brillant, aber banal, ohne Geheimnis, selbst noch in der Briefszene. Erst wenn Tatjana das in der einsamen Liebesnacht verfasste Geständnis übergeben hat und nun zagend auf Onegins Reaktion wartet, gestattet der Dirigent sich und dem Publikum ein wenig menschliche Wärme.

Durchleuchten der lebensfeindlichen Gesellschaft

Schonungslos will diese Produktion die lebensfeindliche Gesellschaft durchleuchten – und verzettelt sich, bei aller feinen Beobachtungsgabe Andrea Breths, optisch doch in einem Ästhetizismus der alten Schaubühne. Martin Zehetgruber nämlich hat eines dieser Bühnenbilder geschaffen, die jedes Tschechow-Stück bebildern könnten: hohe, holzgetäfelte Räume, handwerklich perfekt gearbeitet und viel zu gut erhalten für die post-zaristische, post-sozialistische Ära, die hier dargestellt werden soll. Auf der gigantischen Drehbühne des Großen Festspielhauses formen sich die Wände zum vielzimmrigen Haus mit öffentlichen Sälen und privaten Kabinetten.

Doch das reicht der Regie nicht aus: Breth will ständige Szenenwechsel, manchmal braucht sie für eine Arie zwei Spielorte. Da wird von den lautlos wie Mainzelmännchen arbeitenden Technikern für wenige Minuten ein Wald aufgebaut, für eine kurze Chorszene kommt eine Fabrik mit Dutzenden Nähmaschinen hereingefahren. Dass der Bühnenboden im zweiten Akt voll Wasserlachen sein muss – so marode sind Haus und Staat! –, erzwingt bei diesem nach Konzentration verlangenden Stück sogar zwei Pausen. Ein Aufwand, der in keinem Verhältnis zum Erkenntnisgewinn steht. Der aber viel aussagt über den barocken Geist dieser einzigartigen, eigenartigen Stadt Salzburg, wo schon immer besonders viel Aufmerksamkeit auf den äußeren Schein verwendet wurde. Und die Bussi-Society jubelt.

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