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Von Moskau gesteuert. Kirill Serebrennikovs aus der Ferne inszenierter Festivalbeitrag "Outside" bei der 73. Ausgabe des Theaterfestivals von Avignon.

© GERARD JULIEN / AFP

Theaterfestival von Avignon: Bloß keine Gelbwesten

Von Kirill Serebrennikov und Faustin Linyekula bis zur griechischen Mythologie: Das Festival d’Avignon versucht vergeblich, die Gegenwartsmalaise zu heilen.

Ein Horde von jungen Frauen in Alltagsklamotten bevölkert die Bühne, in Posen größter Alltäglichkeit, im Gestus einer Zeitgenossenschaft, die vor allem eins ist: Cool. Aber dann tauchen zwei ziemlich aufgemischte Typen auf und ihre verzweifelte ältere Mutter: Iokoaste. Umringt von lässiger Gegenwart soll der alte Mythos um die Horrorfamilie der Labdakiden erzählt werden, mit Oedipus und den Streithähnen Eteokles und Polyneikes, deren Kampf im Tod endet. Banlieuetheaterchef Daniel Jeanneteau hat Martin Crimps Version von Euripides’ „Die Phönizierinnen“ inszeniert.

Seine stinksauren Figuren schmeißen dabei viel zeitgenössisches Stahlrohrmobiliar über die Bühne und auch der Chor der Coolen wird immer nervöser. Dennoch: Jeanneteaus Inszenierung von Crimps „Alles Weitere kennen Sie aus dem Kino“ bringt hier einfach nicht Mythos und Gegenwart zusammen; sie okkupieren zwar dieselbe Bühne, aber sie sprechen nicht miteinander. Das ist symptomatisch für eine Festivalausgabe, die sich selbst zur Aufgabe gemacht hatte, die Gegenwartsmalaise mit Griechenmythen zu heilen, aber diesen programmatischen Anspruch kaum einlösen konnte.

Dass Kuratorenbotschaften oft hohl sind, ist nichts neues und braucht nicht zu stören. Denn normalerweise bietet das Festival in Avignon genug Material für Inspirationen; dann wirft eine Aufführung eine spannende Frage auf, die sich fortgesetzt und in anderen Arbeiten spiegelt. Am Ende hat man einen hübschen Leitgedanken, ein neues Theoriechen über Gott und die Welt und das Theater. Aber solche konvergierenden Energien fehlten dem Festival in diesem Jahr völlig. So bleibt eine kleine Sammlung von Solitären in Erinnerung.

Von Moskau aus steuert Kirill Serebrennikov eine Inszenierung

Eine dieser nur für sich sprechenden Arbeiten ist „Outside“. Die wiederum aus der Moskauer Ferne gesteuerte Inszenierung stammt von Kirill Serebrennikov, der von der Justiz erst im April aus dem strengen Hausarrest entlassen wurde, aber immer noch unter Reiseverbot steht. Seine von nuancenreicher Lifemusik begleitete Arbeit ist eine Hommage an den chinesischen Fotografen und Poeten Ren Hang, der 2017 Selbstmord beging. Der unter Depressionen leidende Künstler hatte sich aus dem Fenster gestürzt. Das war zwei Tage vor einem geplanten Treffen mit dem russischen Theaterregisseur Serebrennikov, der ihm ein gemeinsames Projekt vorschlagen wollte.

Beide waren bei ihren autoritär-intoleranten Regimen durch den künstlerischen Umgang mit dem nackten Körper in Konflikt geraten: Serebrennikov insbesondere mit seiner Theaterschöpfung „Maschine Müller“; Hang mit seinen nackten, oft in floraler Ornamentik gruppierten Körperbildern, entstanden in der eigenen Wohnung oder in unbewachten nächtlichen Parks, veröffentlicht auf eigenen Internetseiten, die dann von den Behörden immer wieder blockiert wurden. Hang traf immer wieder die Zensur, Serebrennikov der bekannte, kafkaeske Prozess um angebliche Veruntreuungen, die russische Version von Zensur. „Outside“ ist nun ein zugleich trotziges und berauscht humorvolles Pandämonium, eine Revue voller Körperbilder, in denen Ren Hangs Bildsprache auf der Bühne nachempfunden wird, während einzelne Texte zerrissene Seelenwelten erkunden.

Zweimal ist ein Fenster im Fokus der Aufmerksamkeit. Am Anfang lehnt sich der Hang-Darsteller Odin Lund Biron weit aus den Fenster und wird vom Sturz zurückgehalten. Am Ende sinkt mit dem Künstler auch das ganze Ensemble im Gewitter der Fotoblitze in den Tod. Kunst kann Tote für die Dauer der Aufführung ins Leben zurückrufen, aber sie kann das Schicksal nicht völlig überwinden. „Outside“ ist ein Meisterwerk der Kongenialen, ein Rendezvous zwischen Leben und Tod.

Krafttheater mit Gebrüll und Gerüstdekor

Ein weiterer, etwas unergründliches Monstrum des Festivals war Meng Jinghuis Gastspiel von „La Maison de Thé“, nach dem in den 1950er Jahren entstandenen Stück des Lao She. Ein Krafttheater mit abwechselnd in den Saal brüllenden Protagonisten, hohem Aggressionspotential und einem gewaltigem Gerüstdekor rings um eine gewaltige Radkonstruktion. Nach mehr als zweieinhalb lauten Stunden und dem langen existentialistischen Klagegesang eines Teehausbesitzers setzt es sich in Bewegung und schreddert unter lautem Gepolter dessen Mobiliar. Figuren aus drei Episoden der chinesischen Geschichte waren da zuvor ein und aus gegangen. Das sah so aus, als wäre da eine bösartige Schicksalsmaschine am Werk, die chinesische Existenzen zerstört, seien sie nun dynastisch, republikanisch oder kommunistisch. Das Publikum, lost in Translation durch viel zu flotte Übertitel, nahm dieses vom Volksbühnendramaturgen Sebastian Kaiser mitinitiierte chinesische Theater mit geduldiger Fassungslosigkeit.

Und noch ein Solitär, diesmal ein kleiner, nunmehr der letzten Festivaltage: Schon im Februar hätte „Histoire(s) du Théâtre II“ am flamischen NTGent  uraufgeführt werden sollen, aber die Behörden hatten damals die notwenigen Visa für die kongolesische Künstler nicht erteilt. So zeigte Avignon erstmalig Faustin Linyekulas neue Arbeit. Sie ist die zweite Folge der von Milo Rau initiierten Reihe „Histoire(s) du Théâtre“, die sich an den Esssayfilmzyklus „Histoire(s) du Cinéma“ von Jean-Luc Godard anlehnt. Wie bei Godard geht es darum, das Medium und seine Tauglichkeit in der Wechselwirkung mit der großen Weltgeschichte zu befragen. Milo Rau tat das in der viel diskutierten „Wiederholung“ mit der Frage nach der Tauglichkeit des Theaters in Bezug auf sexualisierte Gewalt.

Diktator Mobuto schafft das Nationalballett als Propagandavehikel

Faustin Linyekula erinnert nun an die Gründung des „Ballet National du Zaïre“ im Jahr 1974, in dem er übrigens auch geboren wurde. Der kongolesische Unabhängigkeitspräsident und Diktator Mobuto hatte das Nationalballett als Propagandainstrument ins Leben gerufen. Die erzählten Mythen sollten die 400 Stämme des Kongo einen. Die gut bezahlten Mitglieder des Balletts waren ein wichtiges Prestigeprojekt des Diktators. Zwei der nunmehr betagteren Tänzerinnen und einen Musiker lässt der kongolesische Choreograf auftreten und ihre Lebensgeschichten erzählen.

Er zeigt sie in Filmausschnitten von damals und gleichzeitig leibhaftig auf der Bühne: Der Tanz der nunmehr alten Körper hat im direkten Vergleich mit dem von früher nicht an Ausdruck verloren, er ist im Gegenteil freier geworden, unbelastet von den Erwartungen der Politik, verspielter im Ausdruck. Linyekulas kleine Arbeit ist Dokumentartheater, eine humorvolle Hommage an die Tanzgeschichte seiner Heimat, offenbart aber kaum, wie sie seine Arbeit als Choreograf beeinflusst hat.

Was aber von Avignon auch haften bleibt, ist eine gewaltige Leerstelle. Geradezu realitätsflüchtig hat sich das Festival zu der in den letzten Monaten nicht nur von den Gelbwesten laut und deutlich gestellten sozialen Frage verhalten. Da war einfach nichts im Programm, das die spontanen Proteste in den Reflexionsraum der Kunst weitergedacht hätte. Das gilt auch für das Off-Festival. Aber immerhin eine sehr berührende Arbeit erzählte von menschlichen Elend in einer Jugendhilfeeinrichtung in der Pariser Banlieue. Inszeniert hatte das der ehemalige Intendant des großen Théâtre des Amandiers, Jean-Louis Martinelli. In ihr wurde auch der unüberwindliche Graben deutlich, der die Randlagen der französischen Gesellschaft von ihrer Mitte abspaltet.

Eberhard Spreng

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