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 Klaus Maria Brandauer in Becketts „Das letzte Band“ , Regie: Peter Stein

© Foto: Drama-Berlin.de/Imago

Theatergeschichte : Günther Rühles Vermächtnis

Finale für Günther Rühles Mammutprojekt „Theater in Deutschland“: Auf 3600 Seiten ist hier das Wissen eines bedeutenden Kulturmenschen komprimiert

Das wird es so nie wieder geben. Ein alter Mann wird älter und schreibt in den letzten zwanzig Jahren seines auch zuvor schon höchst arbeitsreichen Lebens eine beispiellos monumentale Geschichte des deutschen Theaters vom wilhelminischen Kaiserreich bis zur Jahrtausendwende. Am Ende sind das drei Bände, 3600 Druckseiten mit fast 5000 Anmerkungen. Ohne eine einzige Abbildung. Nichts als Worte und sehr viel Wissen.

Günther Rühle, dieser Kritiker, ehemalige Feuilletonchef der „FAZ“ und kurz auch des Tagesspiegels, zwischenzeitlicher Intendant des Schauspiels Frankfurt am Main, er war mit all seiner nie versiegenden Theaterbeobachtungs- und Theaterergründungsleidenschaft vor allem: ein das große Ganze am liebsten ganz groß umfassender Historiker. Nach zahlreichen Büchern etwa über das Theater der Weimarer Republik und als Herausgeber und Wiederentdecker der Werke von Alfred Kerr ist er bereits 83 Jahre alt, als 2007 im S. Fischer Verlag der erste, sogar auf dem Cover bildlose, mit nichts als roter und weißer Schrift geschmückte Wackerstein erscheint: „Theater in Deutschland. 1887 – 1945“. Der lakonisch starke Untertitel, ebenso wie bei den dann mit Sieben-, Achtjahresschritten folgenden Bänden: „Seine Ereignisse – seine Menschen“.

Der erste Satz im ersten Buch gilt damals einem Berliner Theaterbesuch des Schriftstellers und Kritikers Theodor Fontane, zu Beginn des Jahres 1887. Es geht dabei um die deutsche Erstaufführung von Henrik Ibsens „Gespenster“, um ein wegen Themen wie Inzest, Syphilis, freie Liebe umstrittenes, erst von kaiserlicher Zensur bedrohtes, später auch von den Nazis geächtetes Schlüsselstück der Moderne. Aber Rühles Kunstgriff gilt zugleich der Figur Fontane. Günther Rühle war selbst nie ein Dichter. Doch Fontanes Doppelbegabung als Theaterkritiker und Menschenschilderer in teils zeitgenössischen, teils historischen Romanen, ist ihm ein unausgesprochenes Vorbild gewesen.

Peter Stein 2010 bei den Salzburger Festspielen, Probe zu „Ödipus auf Kolonos“
Peter Stein 2010 bei den Salzburger Festspielen, Probe zu „Ödipus auf Kolonos“

© Foto: Manfred Inger/Imago

Ereignisse aus politischer, kultureller Zeitgeschichte und die darin verwobene Historie des einst als kritischer Spiegel der Menschheitsgeschichte begriffenen Schauspieltheaters: Dies alles zusammen möchte er wachrufen, als wär’s ein nicht erfundenes, aber in zigtausend mehr oder minder dokumentarischen Zeugnissen gefundenes Stück von ihm.

Der Kritiker Günther Rühle hat so immer wieder versucht, sich als imaginärer Zeitgenosse auch in nie erlebte, längst vergangene Aufführungen, Menschen, und Ereignisse hineinzuträumen, hineinzudenken. Um sie, bisweilen ungeachtet aller wissenschaftlichen Quellenkritik, so lebendig, so leidenschaftlich zu beschreiben, als hätte er selbst schon vor hundert Jahren mit den Kollegen Fontane, Kerr, Ihering im Parkett gesessen. Als hätte er mit Max Reinhardt, Gustaf Gründgens, Bertolt Brecht noch leibhaftig gesprochen.

Im Dezember 2021 ist Rühle mit 97 Jahren gestorben

Und nun, nach dem 2014 veröffentlichten zweiten Band des „Theaters in Deutschland 1945 – 1966“, erscheint dieses Finale: mit den Jahreszahlen „1967 – 1995“. Allerdings werden die Grenzen des genannten Zeitraums durchaus überschritten. Mit gelegentlich erklärenden Rückverweisen auf den vorangegangenen Band und in mehr als nur Nebenbemerkungen, in einem Exkurs und einer Schlussbetrachtung auch mit dem Blick in die Gegenwart. Trotzdem bleibt die Darstellung der Ereignisse ebenso bewusst wie unfreiwillig ein Fragment. Denn Günther Rühle ist im Dezember letzten Jahres im Alter von 97 Jahren gestorben.

Nur zu gerne hätte der feuerköpfig und herzblütig am Theater(leben) hängende Mann dieses Werk mit einem sicher noch doppelt so umfangreichen Text über die Jahrtausendschwelle noch expliziter in die Jetztzeit geführt. Nach dem zweiten Band hatte Rühle zwar gezweifelt, ob er wirklich noch eine Theatergeschichte der Gegenwart, ein Panorama ganz unserer Zeit schreiben solle. Weil er dann ja als auswählender, kritisch einordnender Chronist „von unzähligen lebenden Besserwissern“ umgeben sei. Aber schließlich hat ihn, mit mittlerweile über 90 Jahren, doch wieder der Ehrgeiz gepackt. Es sind nun auch noch fast 800 Seiten geworden – bis der Hochbetagte zum Ende hin mehr und mehr sein Augenlicht verlor.

Mit letzter Sehkraft und einer Speziallupe am Computer tippte er schließlich sein bewegendes, erschütternd geistesgegenwärtiges Abschiedstagebuch „Ein alter Mann wird älter“, das kurz vor seinem Tod im Alexander Verlag erschienen ist. Da freilich hatte er die Theatergeschichte zur Schlusskorrektur des bisher Geschriebenen und zur Edition des Fragments bereits dem Theaterdramaturgen und langjährigen Peymann-Partner Hermann Beil sowie Stephan Dörschel, dem kundigen Theaterarchivar der Berliner Akademie der Künste, übergeben.

Beil und Dörschel haben sodann in wenigen Monaten zahllose Details akribisch überprüft und mit Genehmigung des Autors auch ein paar frühere Rühle-Texte, Kritiken und Statements ergänzend mit eingefügt. Beispielsweise eine sechs Wochen nach den Premierenkritiken zu Hans Neuenfels‘ „Medea“-Inszenierung 1976 am Schauspiel Frankfurt veröffentlichte Reflexion Rühles.

Rühle argumentiert in einer Mischung aus Sorge um die Tradition und Neugier auf Neues

Peter von Becker

Als Feuilletonchef der FAZ, der im eigenen Blatt damals keine Theaterkritiken mehr schreiben sollte, thematisierte er nochmal den Skandal jener auch in der FAZ zuvor völlig verrissenen, dann aber zum Publikumsmagnet gewordenen Aufführung. Es war eine um tieferes Verständnis für den wilden Neuenfels werbende Metakritik. Gleichwohl sind die einstigen Überlegungen zum freien, angeblich oder tatsächlich entstellenden Umgang der Regie mit Klassiker-Texten noch heute lesenswert. Ein Dokument aus der Umbruchzeit, die in den 60er und 70er Jahren „Opas Theater“ der Nachkriegsära für tot erklärte.

Schon bei diesem mehr als fünfzig Jahre zurückliegenden Streit um eine Gewalt, Missbrauch, Analverkekehr und erigierte Plastikpimmel teils vorzeigende, teils nur andeutende „Medea“ argumentiert Rühle in seiner Mischung aus Sorge um die Tradition und Neugier auf Neues. Der Kritiker und Historiker g. r., so sein legendäres Kürzel auch unter halbseitigen Zeitungsartikeln, war erst ein alter Junger, dann lange ein junger Alter. Im ästhetischen Urteil ein konservativer Rebell.

Christoph Marthalers Inszenierung von Horvaths „Geschichten aus dem Wiener Wald“ an der Volksbühne Berlin, 2006
Christoph Marthalers Inszenierung von Horvaths „Geschichten aus dem Wiener Wald“ an der Volksbühne Berlin, 2006

© Foto: Imago/Brigani-Art

Zu solchem Spannungsverhältnis passt, dass die Schlüsselfigur dieses Abschlussbandes wohl Peter Stein heißt. Das Buch beginnt 1967, im selben Jahr ist Konrad Adenauer gestorben und damit der Gründervater der Bundesrepublik. Es ist aber auch das Jahr, in dem der dreißigjährige Peter Stein, ein bis dahin völlig unbekannte Regieassistent, im Werkraum der Münchner Kammerspiele Edward Bonds „Gerettet“ inszeniert, auch ein Skandalstück (in dem ein Baby gesteinigt wird), und mit diesem Debüt sofort zum „Regisseur des Jahres“ avanciert. Heute nun ist Peter Stein, vom einstigen linken Revoluzzer und berühmten Neugründer der Berliner Schaubühne zum erklärten Konservativen geworden. Wenn nicht ein Adenauer des Theaters, so doch der letzte Patriarch der deutschen und europäischen Szene.

Günther Rühle streift mit Steins zwölfstündiger Inszenierung beider Teile des „Faust“, die im Jahr 2000 auf der Weltausstellung in Hannover Premiere hatte, dann auch das neue Millennium. Denn Steins Goethe-Spektakel erscheint ihm als größtmögliches Endspiel. Ein Finale jenes bürgerlichen, den aufklärerischen Programmen von Lessing und Schiller, von Brecht bis Heiner Müller noch grundlegend verpflichteten Literaturtheaters. Was danach oder daneben kommt, das Spiel mit der Dekonstruktion (statt Interpretation) von Dramen und die pure, postdramatische Performation, das alles ist für Rühle nur noch ein Fragezeichen. Sein letztes Kapitel trägt so die Überschrift „Befreites Theater – freies Theater?“

Botho Strauß wirkt stark unterschätzt

Vieles und viele kommen in diesem unvollendet geblieben Großwerk kaum oder gar nicht vor. Kein Musiktheater, kein Tanztheater, Pina Bausch nur zweimal namentlich erwähnt, kaum Szenen jenseits der Stadt- und Staatstheater, nichts Substanzielles zu Luc Bondy, selbst im Fall Fassbinder kein Auge für die Filme. Und der Konflikt um Fassbinders als antisemitisch verdächtigtes Drama „Die Stadt, der Müll und der Tod“ während Rühles Frankfurter Schauspielintendanz wird wie die gesamte eigene Amtszeit nur stenographiert. Wenig auch zu Claus Peymanns Bochumer und Wiener Zeit (das hat Rühle stark bekümmert), und ein Autor wie Botho Strauß wirkt stark unterschätzt. So ist es leicht, hier als Kritiker in den schon befürchteten Chor der Besserwisser einzustimmen.

Doch überwiegt die Bewunderung für diesen späten Kampf mit der ungeheuren Fülle des Materials. So gelingt eine spannende Beschreibung des DDR-Theaters in seiner Wende-Endphase, mit den Rollen Heiner Müllers und von Frank Castorf. Oder man liest derart fein skizzierende Sätze zu Christoph Marthalers wunderlichem DDR-Requiem „Murx den Europäer!“ an Castorfs Berliner Volksbühne: „Ein Abgesang von erschreckender, lakonischer Deutlichkeit, eine Komposition von Gehirnarchäologie und Bühnenpoesie…, denkwürdig.“

Natürlich hat das Fragmentarische seinen Preis. Aber das Vorwort der Herausgeber endet mit einem von Rühle noch selbst ausgewählten Zitat aus Thomas Bernhards komödiantischem Roman „Alte Meister“: „Unser Zeitalter ist als Ganzes ja schon lange Zeit nicht mehr auszuhalten (…), nur da, wo wir das Fragment sehen, ist es uns erträglich.“

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