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© Marcus Lieberenz/bildbühne.de

Theaterpremiere: Städte zu Steppen

Das Drama zur Deindustrialisierung des Ostens: „Im Rücken der Stadt“ am Maxim Gorki Theater zeigt, wie der Niedergang einer Region mit der Erosion der Gefühle zusammengeht

„Ich aquarelliere“, sagt einer aus dem Chor der Nachbarn. „Im Keller. Ist ein Hobby. Ausgleich. Für den Job im Büro.“ Klar, der Mensch braucht so was. Die grauen Freizeitstunden wollen schließlich genauso bewältigt werden wie die Mühen der Lohnarbeit. Der Aquarellist sagt dann noch: „Ich male ausschließlich Bürozubehör“. Was für eine Vorstellung: Das verwässerte Bild eines Heftlochers aus der blauen Periode eines einfachen Angestellten. Und spätestens an dieser Stelle hat der junge Autor Thomas Freyer einen mit seinen eigenwilligen Skizzen aus Melancholie und Lakonik erobert.

In Nora Schlockers Uraufführung von Freyers jüngstem Stück „Im Rücken die Stadt“ am Maxim Gorki Theater geben Ulrich Anschütz, Wilhelm Eilers und Jörg-Martin Wagner diesen Chor der Nachbarn, ein uniformiertes Trio namenloser Mehrheitsmänner: Beige Hose, brauner Pullunder, verstaubter Blick. Über die gescheiterte Ehe reden sie, über die Zucht lebendgebärender Zahnkarpfen, über das neue Eigenheim und natürlich die gute alte Zeit, als der Osten noch Orientierung war. „Wieder einer tot vom Konsumbrot. Über so was lachen wir“, verkünden sie mit heiligem Ernst. Dem Kombinat trauern sie nach, aber vom Kombiticket für den Freizeitpark, den der alerte Selfmade-Unternehmer Heiko (Leon Ullrich) gerade in ihrem sterbenden Kaff errichtet, wollen sie nichts wissen.

„Im Rücken die Stadt“ ist im Rahmen des Projektes „Über Leben im Umbruch“ entstanden, das junge Wissenschaftler und junge Autoren in Wittenberge an der Prignitz zusammengeführt hat, wo man sich gemeinsam über Strukturwandel, Deindustrialisierung und Schrumpftendenzen Gedanken machte. Bei Freyer fällt der Name Wittenberge nicht, sein Geisterstadtstück erzählt davon, wie der Niedergang einer Region mit der Erosion der Beziehungen zusammengeht. Auf der Rückwand der Studiobühne (Natascha von Steiger) leuchtet die Fototapete eines Rapsfeldes, was jene zu Tode zitierte Wendung von den „blühenden Landschaften“ nahelegt, allerdings ergießt sich das Bild aus dem Rahmen auf den Boden, in Form eines Sees aus Gelbe-Seiten-Schnipseln, und das ist dann wieder sehr schön. Ein Schwimmen in den Überbleibseln des Branchenbuches als Metapher für das Verschwinden von Arbeit und Sinn.

Ina kehrt heim in die Einöde, zum Pflichtbesuch. Britta Hammelstein spielt diese junge Frau, die ihrer Herkunft den Rücken gekehrt hat und nun ihrer Mutter (Ruth Reinecke) und dem daheimgebliebenen Exfreund (Jörg Kleemann) mit einer Mischung aus Schuldgefühl und Trotz begegnet. Ina, die rastlos Phantasiezigaretten aus Papierfetzen raucht, ist zerrissen zwischen Fluchtimpulsen und der drängenden Suche nach der eigenen Vergangenheit, großartig spielt Hammelstein das. Zu Beginn summt sie einen hohen Ton ins Mikro, der wie ein Tinnitus klingt, der nach der Implosion des eigenen Lebens zurückgeblieben ist.

Das Personal aus Ewiggestrigen und Hasardeuren, die Atmosphäre fortschreitender Versteppung, das alles kennt man aus Stücken von Fritz Kater und Filmen wie „Jerichow“. Aber Freyer und Schlocker halten das Geschehen so in der Schwebe, dass ihnen die Stereotypen nicht auf die Füße fallen. Sie stimmen einen ganz eigenen Blues über die Frage an, was der Mensch braucht, um sich wertvoll zu fühlen. Am Ende steht die Parole: „Freiheit statt Freizeit!“ Patrick Wildermann

– wieder am 13. Februar, 20.15 Uhr

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