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Theaterstar mit senegalesischem Familienbackground: Birane Ba spielt Mackie Messer.

© Jean-Louis Fernandez

Thomas Ostermeiers „Dreigroschenoper“ in Aix: Der Kapitalismus ist ein Raubtier

Regisseur Thomas Ostermeier feiert mit Brechts „Dreigroschenoper“ einen Triumph beim Opernfestival in Aix-en-Provence. Vor der Premiere hatte es in Frankreichs Straßen rumort.

Von Eberhard Spreng

Wer in den vergangenen Tagen in der französischen Provinz unterwegs war, konnte eine merkwürdige Diskrepanz erleben: Während Berichte der Straßenkämpfe die Medien beherrschten, blieben ganze Städte und Provinzen von ihnen unberührt.

Zu den seligen Verschonten gehören die südfranzösischen Festivalstädte Avignon und Aix-en-Provence, dessen 75. Opernfestival mit Brechts „Dreigroschenoper“ eröffnet. Regie führt der Berliner Schaubühnenchef Thomas Ostermeier, der dem Stück brisante Aktualität zutraut.

Vier Mikrofonstative auf der Vorderbühne, der scharf umrissene Lichtkegel eines Scheinwerfers und wieder einmal die Moritat vom Haifisch und von Mackie Messer. Thomas Ostermeiers „Opéra de Quat’Sous“ beginnt unter dem Sternenhimmel der Provence auf aufgeräumter Bühne. Lediglich eine Brückenkonstruktion mit Teppen kommt später dazu.

Thomas Ostermeier lenkt das Ensemble der Comédie Française zunächst in ein ironisches Showbiz, das bei allerlei Stilerbschaften aus den 1920er Jahren Anleihen macht. Macheaths Hochzeit mit Polly gerät zu einem wie in Zeitdehnung verlangsamten Slapstick, bei dem der Gangsterboss seiner Bande Sahnetorte ins Gesicht drückt, man auf den Resten heftig ins Rutschen kommt.

Slapstick mit Sahnetorte

Ein szenisches Zitat, locker hingeworfen. Dann Auftritt von Polly Peachum, zentral in einen Leuchtrahmen gesetzt mit dem legendären Song der Seeräuber-Jenny. Spätestens hier wird Marie Oppert zum Zentrum eines ungebrochenen Operngenusses. Die Schauspielerin begann ihre Karriere als Sängerin; das hört man. Ihre Polly beglückt das Publikum beim Opernfestival in Aix mit opulenten Stimmfähigkeiten.

Auch die Bildwelt dieser „Dreigroschenoper“ lässt sich ohne Einschränkung schlicht genießen: Auf bewegten LED-Leuchtbändern sind die Texteinblendungen zu lesen, mit denen Brecht das Geschehen verortete. Vertikal, diagonal und horizontal stehen sie im Raum und erinnern an Installationen der amerikanischen Künstlerin Jenny Holzer. Rechts hängen drei große LED-Paneele.

Sie erinnern mit Formen von Kreis, Keil und Rechteck an die geometrische Abstraktion und den Suprematismus, auf ihnen drehen sich Zahnräder, schweben Planeten.

Dann zeigen sich kinematografische Bewegungsstudien, Tanzszenen Slogans und politische Botschaften: eine Mischung aus Wissenschaft und Ideologie, Menschenbilder der 1920er Jahre. Ein Hauch Neue Sachlichkeit neben dem Expressionismus der Theaterhandlung.

Kriminalität als Kraftzentrum

Das ruchlose, ungehemmte, kriminell hedonistische Zentrum des Stücks, Mackie Messer, hat Thomas Ostermeier mit dem schwarzen Birane Ba besetzt, einer der jüngsten Kräfte im Ensemble. Das Kind einer Arbeiterfamilie mit senegalesischem Migrationshintergrund steht auch für eine Erneuerung hin zu mehr Diversität, die sich das französische Traditionstheater verordnet hat. 

Aber Macheaths bedingungsloser Hedonismus, seine individuelle Rücksichtslosigkeit, ist heute keine Ausnahme mehr. Das Raubtierhafte ist Allgemeingut geworden, Schocks der Selbsterkenntnis beim bürgerlichen Festivalpublikum unwahrscheinlich. Die von Karl Marx prognostizierte moralische Verrohung der Menschheit im Kapitalismus ist fast ein Jahrhundert älter geworden und hat andere Formen angenommen.

Die Welt ist müde geworden und die Jugend erfindet andere Posen des Protestes, um gesehen zu werden und aus dem legendären Schatten zu treten, den Brecht beschwor. Nicht in Aix, sondern im 30 Kilometer entfernten Marseille. Bei öffentlichen Proben, so berichtete Ostermeier, hat diese Jugend genau begriffen, was Brecht da erzählt.

Aber im Licht des Opernfestivals kann dieses Theater zu den Brecht’schen Absichten nur bedingt aufschließen und ist heute paradoxerweise genau an diesem Ort richtig aufgehoben: Es ist, wie schon in Inszenierungen der Vergangenheit, Oper geworden.

Weill triumphiert bei der Eröffnung der Jubiläumsausgabe des Festivals in Aix. Sein Spektrum vom Evergreen zur Atonalität knallt Maxime Pascal mit dem Ensemble Le Balcon in scharf ausgestanzten Klängen ins Freilufttheater. 

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