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Kultur: Titanen der Provinz

Michael Buselmeier reist ins oberfränkische Wunsiedel und begegnet alten Gespenstern

Vierundvierzig Jahre und ein Tag sind vergangen, seit ich – ein unerfahrener junger Mensch – den Bummelzug bestieg, der mich über Würzburg, Nürnberg und Bayreuth in die oberfränkische Kleinstadt Wunsiedel bringen sollte, damals eine etwa achtstündige Reise ins Unbekannte.“ So klassisch beginnt Michael Buselmeiers schmaler, feiner Roman „Wunsiedel“.

Aber man muss den Leser dringend davor warnen, sich auf die Suche nach jenem zart leuchtenden, geheimnisvollen und poetischen Wunsiedel zu begeben, von dem dieser Roman erzählt. Denn es liegt im Grenzgebiet zwischen William Faulkners heißem, schwül duftendem Yoknapatawpha und dem galizischen, nebelverhangenen Drohobycz von Bruno Schulz. Jean Pauls Titanen hausen hier und Richard Wagners Siegfried – allerdings mit jüdischen Wurzeln. Und ein Taugenichts, der ins Blaue fuhr, muss hier seinen Lebensplan ändern.

Der angehende Schauspieler Moritz Schoppe, der Held des Romans, den wir als älteren Mann schon aus Michael Buselmeiers „Landroman“ kennen, soll in Wunsiedel sein erstes Engagement antreten, nur ist der alte Intendant Siems (Buselmeier bezieht sich hier auf die reale Person), der den jungen Mann heftig umwarb und bei ihm sogar eine Neufassung des „Götz von Berlichingen“ in Auftrag gab, kurz zuvor an einem Herzinfarkt gestorben. Also reist Schoppe ins doppelt Ungewisse, voller Heimweh nach der geliebten Mutter, von der er, außer während des Krieges, noch nie getrennt war. Doch in Wunsiedel tritt er mitten in einen leuchtenden Vorabend, die elegant geschwungene Bahnhofsstraße saugt ihn förmlich ein und drängt ihn auf die düstere Höhe des Fichtelgebirges mit seiner Felsenbühne hin – so nimmt das Verhängnis seinen Lauf. Denn dass die altgedienten Mimen der Luisenburg-Festspiele, die hier ihre Sommerpfründe hüten und Dienst nach Vorschrift machen, über einen kritischen Geist wie Schoppe erbost sind, liegt auf der Hand.

Es werden zehn bittere Wochen für den Fantasten und leidenschaftlichen Leser, und wenn er sich nicht in die Romane des hier geborenen Jean Paul vertieft hätte, in den „Titan“ mit seinem Komikus Schoppe, dem Titularbibliothekar und aufrechten Wahrheitssucher, und vor allem in die „Flegeljahre“, wo er seine inneren Kämpfe mit satirischem Witz gespiegelt fand, wäre er nach wenigen Tagen geflohen. Doch trotz Not und Selbstmitleid begeistert ihn die herbe fränkische Landschaft mit ihren heftig aufflammenden Abendhimmeln und gelb leuchtenden Hügeln, den bescheidenen Bauerngärten und Weizenfeldern voller Kornblumen.

„Ich kann ,Schönheit’ nur im Unscheinbaren finden“, hält der 1938 geborene Heidelberger Schriftsteller in seinem „BulgarischenTagebuch“ (1999) fest, deshalb gerät das Zusammentreffen dieser strengen Landschaft mit dem schwärmerisch-verzweifelten, an Werther und Wilhelm Meister geschulten Blick seines Helden zum erzählerischen Glücksfall.

In keinem seiner Romane und Erzählungen gibt es so viele Momente inniger Schönheit – gerade weil der Betrachter sie dieser oft grauen, struppigen Landschaft förmlich entreißen muss. Auf einem seiner stundenlangen Spaziergänge findet der Erzähler ein hellflaumiges Rebhuhn, das mit verdrehtem Kopf zuckend am Weg liegt, die blutende Halswunde von Ameisen bevölkert – ein Bild, das ihn immer an Wunsiedel erinnern wird.

Ob er denn unbedingt zum Theater müsse, fragt der Intendant am letzten Tag, denn er sei ein Einzelgänger und Unruhestifter, der seine Kollegen mit scheelen Blicken beobachte, sich ständig Notizen mache und die Theatermacher als Nichtskönner und Reaktionäre beschimpfe. Der Erzähler weint wie ein Kind, denn er liebt das Theater: es hat ihn aus der Todesangst während des Krieges in einem Kinderheim gerettet, ihm als Schulkind in Gestalt eines selbstgebauten, barocken Welttheaters die Welt erklärt und später, mit Goethes Tasso, verkörpert von Will Quadflieg, seine Berufung geweckt. Doch jetzt, mehr als vierzig Jahre nach jener Katastrophe – auch die Freundin hatte ihn damals verlassen – kostet er seinen späten Triumph aus, der zwar vordergründig bescheiden formuliert, aber existentiell und unbedingt ist. Seinen einstigen Feinden, die längst nicht mehr auftreten oder schon auf dem Friedhof liegen, ruft er nach: „Ihr Widersacher meiner wie jeder andern Kunst, die es ernst meint, ihr Halbherzigen, ihr Berufsfälscher, ihr Pfründner!“

Es ist die Geburt eines radikalen, feinsinnigen Erzählers, die hier sehr persönlich beschrieben wird. Die Saboteure seiner Bühnenkarriere hatten recht, das spürt Schoppe im Licht und im Wiesenduft, den „Erzählwind in allen Poren“. Also wird er „dem Schmetterlingstanz, solange es geht, folgen, mir die einzelnen Bilder genau merken und gleich auch richtig einordnen im Kopf, sie zurecht schleifen im Wiederholen und grasgrün einfärben, damit sie passen und nicht verschwinden mit dem auslaufenden Jahr und der surrenden Zeit, sondern eingehen ins Werk.“

Eine autobiografische Geschichte? Unbedingt, denn für Michael Buselmeier gibt es keinen Unterschied zwischen wirklich Geschehenem und Erfundenem, weil jeder Satz seiner inneren Stimme folgt. So wandert der Erzähler noch einmal durch diesen damals lieblichen Ort, der ihm so kalt und unwirtlich schien, ihn heute aber, trotz Schnellstraßen und verödeter Bahnhofsgegend, freundlich und hoffnungsvoll stimmt. Der früher Anmaßende und Furchtsame ist zum brillanten Handwerker geworden, der sich in die Herbstgeräusche und das grüne Wuchern des Lichts vertieft und sich sein früheres Leben, genauso wie das der Vorfahren, Wort für Wort und Schritt für Schritt „erfindet und wiederfindet“. Die Häuser und Gärten, die Friedhöfe und Bahnstrecken sind dafür die Schlüssel.

Michael

Buselmeier:

Wunsiedel.

Ein Theaterroman. Wunderhorn Verlag, Heidelberg 2011.

160 Seiten, 19 €.

Nicole Henneberg

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