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Kultur: Tote und Soziologen

Diedrich Diederichsenüber Rock und Klangkunst von Mike Kelley Mike Kelley ist als Bildender Künstler weltbekannt, aber seine Klangarbeiten kennt keiner. Kunstleute packen immer noch den denkbar konventionellsten Geschmack aus, wenn es um Musik geht.

Diedrich Diederichsenüber Rock und Klangkunst von Mike Kelley

Mike Kelley ist als Bildender Künstler weltbekannt, aber seine Klangarbeiten kennt keiner. Kunstleute packen immer noch den denkbar konventionellsten Geschmack aus, wenn es um Musik geht. Da wollen sie sich erholen. Anhänger neuer Musik sind in der Regel so unhip, dass sie keinen Witz verstehen und die anekdotischen, respektlosen und durch und durch unmetaphysischen Perspektiven zeitgenössischer Künstler auf Musik und Klang nicht mögen. Vielleicht bessert sich das aber gerade. Von Kelley gibt es Arbeiten, die man ungebrochen zur SoundSkulptur rechnen kann, aber eben auch proletarischen Detroit-Rock. Sein Weg durch die Musik ist lang und verschlungen und spitzt sich auf vier Großinteressen zu: Amerikanische Rock-Musik der sechziger Jahre, die nicht von den Beatles beeinflusst wurde und eine Traditionslinie bis zum amerikanischen Punk bildet. Tommy James & The Shondells. Der zweite Pfeiler ist Noise-Musik der Siebziger, freie Improvisation, die aus dem Free Jazz kam, ebenso wie solche, die sich aus Rock-Experimenten, Drogen, Unvermögen und Überschwang entwickelte. Bestes Beispiel, seine eigene Band Destroy All Monsters, die in Detroit vor Punk ihr Unwesen trieb, dann, nach seiner Übersiedlung nach Kalifornien, um ein paar Ex-Stooges erweitert zu einer frühen Punk-Band wurde. Seine dritte Kraftquelle ist die unbändige japanische Noise Musik der neunziger Jahre, deren Vertreter, Violent Onsen Geisha, zu Kelleys häufigen Kollaborateuren wurden. Und sein viertes großes und neuestes Interesse sind paranormale Klänge: die Geschichte all derjenigen großen Irren, die Versuchsanordnungen entwickelten, die Stimmen der Toten hörbar zu machen. Sein neues Label „Compound Annex“ bringt jetzt eine Flut von interessanten Veröffentlichungen in all diesen Bereichen auf den winzigen Markt.

Geist in der Kirche

Fangen wir mit den Toten an. Kelley hat mehrere Essays über die Kulturgeschichte der Totenstimme veröffentlicht. Zusammen mit Scanner, ein seit langem an Audiospionage interessierter britischer Musiker - er hört Handy-Gespräche ab und mixt sie zu Tanz-Tracks -, hat er leere digitale Minidiscs nach Klang-Anomalien abgesucht: kleine Ausschläge im toten Klang des digitalen Nihil. Mit diesen Sounds ist er auf Pariser Friedhöfe und zu Kirchen gegangen, die eine Verbindung zu interessanten und spiritistisch wichtigen Figuren haben (Lautreamont, Jim Morrison, Olivier Messiaen etc.) und hat mit abgeschalteten Mikrofonen Aufnahmen gemacht. Dennoch gelangten Handy- und andere Umweltgeräusche auf das Band. Diese und andere Unregelmäßigkeiten, die oft so klein waren, dass ProTools sie nicht als Klang erkannte, wurden dann erneut aufgenommen und abgemischt. Und wahrlich, es ist ein ungemütliches Nichts geworden, ein verunreinigtes, strukturiertes Nichts, besser: hässlicher Restsound an einer Schwelle zum Nichts, die schon die Klangkunst immer ganz seriös reizte und die hier aber durch die beim Hören nicht abzuschüttelnde, großirre Prätention, dieses Nichts sei der Tod selbst, ja moderner: der digitale Schnitter, große Begeisterung auslöst („Esprit de Paris“).

Krach im Zelt

Mit seinem Kollegen Paul McCarthy und Violent Onsen Geisha hat Kelley in der Wiener Secession in einem dort als raumfüllende Installation aufgebauten Armee-Camp mehrere Performances (unter Ausschluss der Öffentlichkeit und nur für Videokameras) mit diversen Wiener Transsexuellen und Freiwilligen in Soldatenkostümen aufgeführt („Comp O.S.O.“). Der höllische Performance-Lärm wird von der Noise-Sensibilität der Beteiligten in stilistisch genau die Fortsetzung des Projekts überführt, das Kelley mit den wiedervereinigten Destroy All Monsters seit einigen Jahren betreibt und das nun auf der Live-CD „The Detroit Ontario – Live In Rotterdam and Vienna“ vorliegt. Hier wird die Noise-Sensibilität noch einmal lokalpatriotisch und in Rekonstruktion der späten sechziger Jahre aus dem Detroit-Rock von MC5, Alice Cooper und Bob Seeger abgeleitet. Als überraschender Gast tritt Charlemagne Palestine auf: auch er in gleicher Weise Performance-Künstler und berühmter minimalistischer Komponist, dessen zwei Publiken nichts von einander wissen wollen.

Bizarres Highlight der neusten Veröffentlichungswelle ist aber die CD, auf der Kelley mit einer kalifornischen Rock-Allstar-Band (Mitglieder von Minutemen, Red Crayola, Slovenly etc.) live einen Sänger begleitet, der vorher und nachher sich nie wieder getraut hat, seine depressive Lyrik vor Publikum zu singen: Jean Baudrillard. Zwischen zum Teil wilden Improv-Schlachten zirpt der schüchterne Erfinder der „fatalen Strategien“ im grünlich schimmernden Dinnerjacket eigene Lieder von einsamen Hotels und Todessehnsucht in ein Mikrofon inmitten der Wüste von Nevada im Jahre 1996. Legendär. Alle CDs gibt es über www.mikekelley.com , über den „Compound Annex“-Button.

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