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Kultur: Über alle Grenzen

Aufgebaut, zerstört, aufgebaut – an der Rheinbrücke zwischen Straßburg und Kehl waren die Zeiten immer explosiv. Die deutsch-französische Freundschaft hat die Risse geheilt. Aber die alten, wilden Geschichten erzählt man sich noch.

Von Sabine Heimgärtner,

Strassburg

Deutsch-Französischer Freundschaftsvertrag? „Keine Ahnung“ – bescheidet der junge Franzose in der Touristeninformation kurz hinter der Straßburger Stadtgrenze dem Besucher und zuckt die Achseln. Sein Büro steht in einer Art Niemandsland, kalt, abweisend, unaufgeräumt ist es hier. Wegweiser kündigen Kehl an, die deutsche Kleinstadt am anderen Ufer des Rheins, eine Müllverbrennungsanlage ist ausgeschildert und die geschichtsträchtige, 245 Meter lange Europabrücke. 1388 wurde sie als „Lange Bruck“ erbaut und war zwischen Basel und der Nordsee jahrhundertelang die einzige Brücke über den Rhein. Nirgends kamen sich Deutschland und Frankreich so nah wie zwischen Straßburg und Kehl.

Über Schlaglöcher holpert die Straßburger Buslinie 21 in Richtung Deutschland, vorbei an der Ruine einer französischen Brasserie. „Schutzenbock“ ist über den zugemauerten Fenstern noch mit Mühe zu lesen, das berühmte elsässische Bier. Auf deutscher Seite stehen die Baracken des Bundesgrenzschutzes und des Bundeskriminalamtes, sie sind verwaist, hinter den dichten Gardinen stehen verwelkte Topfpflanzen. Lediglich die draußen angeschlagenen Fahndungsplakate mit den Köpfen dreier gesuchter Al-Qaida- Terroristen weisen darauf hin, dass in den Büros gelegentlich gearbeitet wird. Gegenüber war man emsiger in der letzten Zeit, hat gestrichen und gebaut. Ein gemeinsames Zollhaus beider Länder wird heute eingeweiht, am 40.Jahrestag des Elysée-Vertrages, des historischen Freundschaftsabkommens zwischen Frankreich und der Bundesrepublik.

Den jüngeren Anewohnern dies- und jenseits der neuesten, 1960 gebauten Brücke bedeutet das Datum wenig. So, wie es jetzt ist, war es immer für sie. Seit 58 Jahren ist Frieden – so lange wie selten in dieser Gegend.

Die Alten erinnern sich noch an andere Zeiten. „Der 22. Januar 1963 war für uns ein sehr einschneidendes und wichtiges Ereignis“, sagt Alfred Wickers. Ihm gehört das größte Schuhgeschäft in der Kehler Fußgängerzone, 1963 war er 29 Jahre alt, jetzt ist sein Haar schlohweiß. Er sitzt im Büro hinter dem Laden, er erzählt gern. Unzählige Male wurde die strategisch günstig gelegene Stadt am Rhein besetzt und zerstört, unzählige Male wechselten die Herrscher und die Kehler ihre Staatsbürgerschaft. „Da gingen Risse durch ganze Familien“, sagt Wickers. „Mal deutsch, mal französisch, zum Schluss wussten sie gar nicht mehr, was sie sind.“

Auf der Flucht

Dass es mit guter Nachbarschaft nicht besonders weit her war, davon zeugen auch historische Dokumente. Aus der Zeit der Koalitionskriege und der Ära Napoleon ist ein Hilferuf der Kehler überliefert: „Die wiederholten Überfälle der Franzosen verheerten unsere Dorfschaften mit Plünderungen, mit Sengen und Brennen: Nur allein im Dorf Kehl verloren wir 235 Häuser. Wir flohen händeringend mit unseren jammernden Weibern, wimmernden Kindern und dem Reste des ausgemergelten Viehs in entferntere Gegenden.“

Heinrich Mann floh über die Kehler Brücke vor den Nazis, Heinrich Heine und Ludwig Börne flüchteten vor der deutschen Spießigkeit. Goethe beobachtete den Brautzug von Marie Antoinette, die auf ihrem Weg nach Paris auf einer der nahen Inseln im Rhein ihre österreichische Kleidung gegen französische Prunkroben tauschte. Was trennt, kann aber auch verbinden. Victor Hugo nutzte den Transit über die Brücke für Träumereien von den Vereinigten Staaten Europas. Nach dem Bau der Eisenbahn 1861 passierte die Prominenz im Orientexpress Kehl auf dem Weg nach Konstantinopel.

Die Weltkriege kamen, nach 1945 blieb Kehl französisch, in der Stadt wohnten französische Militärs und Zivilisten. Erst ein Abkommen 1949 sorgte dafür, dass die Stadt innerhalb von vier Jahren an Deutschland zurückgegeben wurde. Alfred Wickers erinnert sich noch an viele Einzelheiten: an den Stacheldraht, der quer durch die Stadt gezogen war und etappenweise versetzt wurde. An den „Kreml“, das große türmchenverzierte Zollhaus am Ortseingang, das man nur mit einer Sondergenehmigung passieren durfte, an den ersten Stock des Pfarrhauses im Stadtteil Auenheim, wo seine Eltern die wenigen Schuhe, die sie retten konnten, verkauften, und schließlich an die Zeit des Wiederaufbaus im neuen Schuhgeschäft der Eltern. Eine Anekdote nach der anderen.

In den 60er Jahren sei enorm viel getrickst worden, der französische Zoll war streng. „Wir hatten kistenweise alte Schuhe im Laden, die die Franzosen beim Einkaufen hier zurückließen.“ Die Sohlen der neuen Paare habe man schön schwarz gemacht, damit sie abgelaufen aussahen, und dann ab mit dem Schmuggelgut, an der Zollkontrolle vorbei. Kehl muss damals satt verdient haben, vor allem mit Waren, die es im Nachbarland nicht oder nur sehr teuer gab. „Tonnenweise verkaufte die einzige Apotheke hier das drüben verbotene Abführmittel Dragee 19.“ Am liebsten erzählt Wickers die „enorme Sache“ von den Büstenhaltern. Ob es auf der anderen Rheinseite einen Engpass gab oder die Vorliebe französischer Damen für deutsche BHs und Korsettagen preisliche Gründe hatte, ist nicht überliefert. Wäsche jeder Art war jedenfalls der Kehler Hit.

Auch wenn die Franzosen am Wochenende immer noch zum Einkaufen kommen, von der damaligen Euphorie ist heute in Kehl nichts mehr zu spüren, eher eine gewisse Zurückhaltung allem Fremden gegenüber. In dem winzigen Stadtzentrum – 15000 Menschen leben in der Kernstadt – ordnen sich übersichtlich Häuser aus den 50er Jahren aneinander, nichts erinnert an die Zeit davor. Das Heimatmuseum hat nur am jeweils ersten Sonntag im Monat geöffnet. Der Veranstaltungskalender der Stadt lädt zu Fastnacht, Rollmopsessen und Handarbeitsnachmittag ein. Weder kulinarisch noch architektonisch ist französische Lebensart zu finden, das „Goldene Lamm“ und „Die Traube“ sind längst zum Italiener und Chinesen geworden.

Munsterkäse und Wein

Eine, die sich auskennt, ist die Buchhändlerin Christina Baumgärtner. Ihre Familie ist ein Beispiel dafür, dass die Nachkriegsgeneration aus der Geschichte gelernt hat. „Die alten Kehler“, sagt sie, „haben außer ihrem geliebten elsässischen Munsterkäse mit Frankreich nicht viel am Hut. Ihre Heimatstadt wurde x-mal evakuiert, die Franzosen haben ihre Häuser bis auf die Kloschüsseln abmontiert, sie sind verbittert. Sie sprechen kaum französisch und wollen es auch nicht.“ Ähnlich sei es mit der Generation der über 60-Jährigen drüben in Straßburg. „Die Franzosen kaufen hier Kleidung, die Deutschen fahren rüber und holen eine Kiste Wein. Das war’s dann.“

Und trotzdem hat sich etwas geändert in den vergangenen Jahrzehnten, etwas Entscheidendes. „Für meine drei Kinder ist die Brücke keine Grenze“, sagt Christina Baumgärtner, die mehrmals täglich zwischen Straßburg und Kehl hin- und herfährt, zum Beispiel, um ihre Kinder von der französischen Schule in der Nachbarstadt abzuholen. Auch wenn die Baumgärtners damit in Kehl zu einer Minderheit gehören – die ersten Schritte sind gemacht. Und die Zukunft Kehls baut auch auf eine Brücke. Bis 2004 soll eine moderne Drahtseilkonstruktion für Fußgänger und Radfahrer beide Rheinufer miteinander verbinden.

Sabine Heimgärtner[Strassburg]

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