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Kultur: Über die Grenzen gehen

Zweifache Moderne: zur großen Filmreihe des Berliner „Mexartes“–Festivals

Von Silvia Hallensleben

Auch beim Filme-Programmieren ist das, was am leichtesten aussieht, oft das Schwerste. Eine schlichte Länderreihe etwa, wie sie heute zum Mexartes-Festival startet – eine kuratorische Fingerübung, könnte man meinen. Schließlich liegt die nationale Kinematographie sortiert in den Regalen, da muss man nur noch die besten Stücke herausgreifen. Doch was sind die besten Stücke? Wer bestimmt den kinematographischen Kanon? Und wie bringt man all die schönen Filme auf den wenigen Plätzen unter? Denn selbst bei – wie in diesem Falle – großzügiger Planung: Drei Dutzend Filme sind Peanuts gegenüber dem, was an Bedeutendem in über 100 Jahren höchst produktiver Kinogeschichte angefallen ist. Mexiko das kulturell gewichtigste Filmland im spanischsprachigen Raum.

Eine kluge Idee war es, die Schau mexikanischen Kinoschaffens in gleich zwei Reihen aufzuteilen. Merkwürdig allerdings, dass sie sich aus demselben Fundus bedienen. Während das von Peter B. Schumann besorgte Programm im Arsenal die mexikanische Filmkunst der 90er Jahre vorstellt, spitzt sich die im Haus der Kulturen der Welt parallel laufende Schiene unter Regie der mexikanischen Filmwissenschaftler Iván Trujillo und Francisco Ohem auf die Themen zu, die auch das Mexartes-Festival insgesamt bestimmen: Grenze, Stadt und Moderne. Doch auch hier kommen fast alle Filme aus den letzten dreizehn Jahren.

Urbane Gesellschaften

Die Stadt: Trotz Chiapas und Hochwüsten ist die mexikanische vor allem eine urbane Gesellschaft, deren soziale Verwerfungen seit Luis Bunuels „Los olvidados" (1950) auch im Kino Niederschlag finden, besonders seit der Verschärfung der ökonomischen Lage in den End-Achtziger Jahren. Ein naturalistisches Kino der Existenz und des nackten Überlebens, doch es gebiert auch neue Klischees und Exotismen von Armut und Gewalt. Alejandro González Inarittus Amores Perros, wohl nicht zufällig der bei uns bekannteste mexikanische Film der letzten Jahre, steht programmatisch für diese Reduktion des Metropolenlebens auf Bandenkämpfe und Prostitution. Viel differenzierter ist Perfume de violetas von Maryse Sistach, ein Film, der seine Darstellerinnen aus einem vorstädtischen Schauspiel-Workshop rekrutierte. Der Film erzählt von der schwierigen Freundschaft zweier Mädchen mit unterschiedlichem sozialen Hintergrund und ist zugleich Porträt einer Außenseiterin. Auch hier gibt es einige Klischees, auch hier erliegt die Regisseurin am Ende unnötiger Dramatisierung. Doch es überwiegt präzise Beobachtung. Und ästhetisch ist mit viel bunten Bonbon-Farben die Mimesis an die Mädchenwelt gut gelungen.

Grenzen sind überall, sie verlaufen mittten durch die Stadt. Doch der Grenzzaun am Rio Grande ist nach dem Fall der Mauer das sichtbarste Symbol für den Riss, der seitdem sichtbarer den Erdball überzieht. Ein dankbarer Kinostoff auch, in seiner trivialsten Form in vielen Drogen-Krimis materialisiert. Grenzen sind aber auch Berührungspunkte. In seinem Roadmovie Bajo California, el límite del tiempo (1999) lässt Carlos Bolado seinen in die USA emigrierten Helden den Grenzfluss in umgekehrter Richtung überqueren, um seine biologischen und kulturellen Wurzeln zu suchen. Auch die Heldin von Maria Novaros Sin Dejar Huella reist von Arizona nach Mexiko. Der Film ist ebenfalls ein Roadmovie, und wie Maryse Systachs Film konfrontiert er zwei Frauen unterschiedlicher Herkunft miteinander: Die eine ist studierte Spezialistin für Maya-Kunst, die andere lebt als Hilfs-Arbeiterin und verdient in den grenznahen Maquiladoras das Brot für sich und ihre Kinder.

Das dritte Themenfeld des Mexartes-Festivals, die Moderne, ist filmisch am schwersten zu fassen. Versammelt sind etwa Juan Moras Retorno a Aztlán und Ignacio Ortíz’ Cuento de hadas para dormir cocodrilos, die den Rückbezug auf prä-spanische Geschichte thematisieren. Außerdem zwei neue Filme von Arturo Ripstein, einem der Väter des neuen mexikanischen Kinos, ein großer seit den sechziger Jahren.

Eine Schau mit Mängeln

Leider fehlt die historische Dimension des Moderne-Begriffs, da die Filmauswahl sich radikal gegen jede filmhistorische Verankerung entschieden hat. So fallen die ökonomisch bedeutendsten Zeiten der mexikanischen Filmgeschichte, die ihre starbesessenen gloriosen „Goldenen Jahre“ in den Vierziger Jahren erlebte, unter den Tisch. Problematisch ist das vor allem, weil der aktuellen Filmproduktion mit dem historischen Kontext auch die Bezugsfolie entzogen wird. Kino ist nicht nur Reflex soziokultureller Gegebenheiten, sondern immer auch Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte.

Ein anderes Manko der Filmschau, in dieser Vorschau ein wenig zurecht gerückt, ist das weitgehende Fehlen weiblicher Filmschaffender, die im aktuellen mexikanischen Kino eine bedeutende und innovative Rolle einnehmen. Die hier allesamt erwähnten wenigen Filme von Regisseurinnen gehören auffälligerweise zu den aufregendsten der Reihe; ebenso wie der Machismo in vielen anderen unübersehbar ist. Leider ist María Novaros „El Jardin del Eden" nicht zu sehen. Dafür immerhin ein sehr schöner älterer Film von ihr – Danzón (1990) ist eine melancholische Liebesgeschichte unter erwachsenen Menschen mit viel Licht, Musik, Tanz und Meer. Novaro beherrscht die Kunst, mit wenig viel zu sagen.

Ein Beispiel ist ihre minimalistische Version der metaphorischen Liebesszene: ein Bootsrumpf im Wellenwiegen, schwankende Planken am Kai, und dazu nur ein Hauch nächtlichen Wasserglitzerns. Kann man über eine gelungene Liebesnacht mehr sagen?

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