zum Hauptinhalt

Kultur: Über sein neues Buch: "Mein Jahrhundert", darüber, dass er im Stehen schreibt und dabei vor sich hinredet

Genau vor vier Jahrzehnten nach dem Welterfolg der "Blechtrommel" zieht Günter Grass mit 71 Jahren Bilanz: "Mein Jahrhundert" heißt sein jüngst veröffentlichter Erzählungsband mit hundert Kurzgeschichten, der trotz durchmischter Kritiken sogleich die Bestsellerlisten erobert hat. Mit dem Schriftsteller sprach Steffen Radlmair.

Genau vor vier Jahrzehnten nach dem Welterfolg der "Blechtrommel" zieht Günter Grass mit 71 Jahren Bilanz: "Mein Jahrhundert" heißt sein jüngst veröffentlichter Erzählungsband mit hundert Kurzgeschichten, der trotz durchmischter Kritiken sogleich die Bestsellerlisten erobert hat. Mit dem Schriftsteller sprach Steffen Radlmair.

Ein Buch über ein Jahrhundert ist für einen Romancier doch eine besondere Herausforderung. War "Ihr" Jahrhundert eine schwere Geburt?

Der Einfall lag auf der Straße. Hundert Jahre, hundert Geschichten. Und dann steht man, wenn dieser Einfall realisiert werden soll, vor einer Geröllmasse. Aus dem widersprüchlichen Material muss man den erzählerischen Funken schlagen, das Ganze aufsplittern in ein Konzert mit vielen Stimmen. Das ging eigentlich flüssig, obwohl ich mir verboten hatte, zu springen und einfach dem nächsten Einfall zu folgen. Denn das hätte nur ein Mosaik ergeben, und das wollte ich nicht. Ich wollte das Gefälle des Jahrhunderts im Buch haben. Auch unter dem Zwang der Chronologie. Gleichzeitig lief der Malprozess dieser emblemhaften Aquarelle. Oft war das Bild da, bevor ich die Geschichte geschrieben hatte. Ich habe mir sozusagen ein Zeichen gesetzt. Beim Schreiben hatte ich ziemlich Bammel vor den fünfziger bis achtziger Jahren, als die Geschichte gewissermaßen "ereignislos" wurde.

Warum haben Sie sich für das literarische Rollenspiel entschieden? Sie hätten ja unter dem Titel "Mein Jahrhundert" auch einfach Ihre Memoiren schreiben können.

Dafür bin ich nicht der Autor. Das Memoirenschreiben überlasse ich den zurückgetretenen Politikern und älter werdenden Literaturpäpsten. Aber dann, wenn es notwendig ist, melde ich mich in dem neuen Buch zu Wort, beginnend mit meinem Geburtsjahr 1927.

Sie werden einerseits von den Medien als "Großschriftsteller" hofiert, andererseits geht die Kritik mit Ihren Büchern nicht gerade zimperlich um.

Dagegen habe ich mich eine Zeit lang aufgelehnt, heute habe ich resigniert. Meine Bücher sind immer umstritten gewesen, aber früher hatte ich auch bei Verrissen den Eindruck, dass der Rezensent das Buch wirklich gelesen hat. Dagegen habe ich heute oft das Gefühl, dass die Kritiker gar keine Lust mehr haben, ihre Leser zu informieren. Sie schreiben für andere Kollegen, zustimmend oder ablehnend, oft irgendwelchen Rankünen folgend. Im Ausland finden meine Bücher Respekt, auch wenn sie kritisch gesehen werden.

Wirklich nur ein deutsches Phänomen?

Ja, das ist die "Spiegel"-Masche: Erst jemand hochloben, um die Fallhöhe zu vergrößern, und dann kraft der eigenen Macht ihn stürzen zu lassen. Das haben sich viele abgeguckt, bis zum hämischen Stil. Offensichtlich finden manche Leute ein Vergnügen an dieser Art von Herabsetzung.

In Ihrem neuen Buch wenden Sie nun eine eher journalistische Methode an. Ist das Ihr literarischer Beitrag zur "Geschichte von unten"?

Ja, das ist Geschichte von unten beschrieben. Aus der Perspektive der Menschen, die nicht Geschichte machen, sondern denen Geschichte widerfährt. Unausweichlich. Als Opfer, als Täter, als Mitläufer. Das war schon in der "Blechtrommel" und beim "Butt" so. Vielleicht ist das eine naive Vorstellung von mir: Ich habe nie den Unterschied zwischen Journalismus und Literatur gesehen.

Sie haben einmal gesagt: "Die Wahrheit hat mich immer gelangweilt." Was heißt das?

Im "Butt" steht: "Die Wahrheit, jedesmal anders erzählt." Was den absoluten Wahrheitsanspruch in Frage stellt. Ich glaube, nach all dem, was wir erfahren haben, nicht nur in diesem Jahrhundert, sollten wir gewitzt genug sein, endgültige Wahrheiten von vornherein skeptisch zu sehen. Die Märchen hören nicht auf, auch sie werden jedes Mal anders erzählt. Aber meine Auffassung von Literatur erinnert immer auch an den Ursprung der Literatur: Geschichten wurden weitererzählt, erst viel später wurde das aufgeschrieben und tauchen Autoren mit Namen auf. Diesen oralen Charakter möchte ich beim Schreiben erhalten.

Sie schreiben im Stehen?

Ja, und ich rede dabei vor mich hin. Das ist außerdem gut für den Rücken.

In "Mein Jahrhundert" beschreiben Sie sich selbst einmal als "abergläubischen Aufklärer".

Wenn Sie an Montaigne denken, da ist der ganze Bereich des Irrationalen vorhanden, auch wenn er das kritisch sieht. Das gehört zum Menschen. Im späteren Prozess der europäischen Aufklärung hat man die Vernunft verabsolutiert, sie wurde mehr und mehr auf das technisch Machbare reduziert. Und das hat, wie wir wissen, zu schrecklichen Ergebnissen geführt. Wenn man sich heute als Aufklärer in dieser Tradition begreift, kommt es darauf an, diese anderen Möglichkeiten und Schichten im Bewusstsein der Menschen gleichwertig mitzusehen. Dabei muss man auch bei sich selbst achten, wie man trotz allem aufklärerischen Anspruch mitunter abergläubisch reagiert.

Apropos: Im neuen Buch erzählen Sie, wie Sie bei der letzten Bundestagswahl Pilze sammeln gingen und auf ein gutes Omen für RotGrün hofften. Wie wäre die Wahl ausgegangen, wenn Sie keine Pilze gefunden hätten?

Dann hätten wir noch mal vier Jahre Kohl erdulden müssen.

Sind Sie mit der neuen Regierung zufrieden?

Ich bin noch nie mit einer Regierung zufrieden gewesen. Aber diese hat es besonders schwer. Es hat mich allerdings verwundert, dass die SPD und die Grünen offenbar zu wenig Pläne in den Schubladen hatten, sie wirkten überrascht und unvorbereitet. Andererseits bin ich erstaunt, wie in so kurzer Zeit Scharping als Verteidigungsminister und Fischer als Außenminister an Statur gewonnen haben. Durch den Krieg im Kosovo waren sie gezwungen, in kürzester Zeit große Aufgaben zu meistern. Das ist eine außergewöhnliche Leistung dieser Regierung, die von der Presse nicht genügend gewürdigt wird. Ein Problem besteht allerdings seit Kohls Zeiten weiter: Das Primat liegt nicht mehr bei der Politik, sondern bei den Wirtschaftsverbänden. Das ist grundgesetzwidrig, macht die Demokratie lächerlich. Man kann nicht weiterleben mit vier Millionen Arbeitslosen. Alle wissen, dass längst Reformen überfällig sind, aber bei jedem Vorschlag geht das Gezerre und Geheule der Verbände los, die demagogisch um ihre Besitzstände kämpfen. Wenn es dieser Regierung nicht gelingt, das Primat der Politik wieder ins Parlament zu holen, dann wird sie scheitern. Das aberwitzige Wort von der Globalisierung ist die Entschuldigung für alles und nichts. Der wohlfeil klingende Ruf "Weniger Staat!", der kommt uns noch teuer zu stehen. "Mehr Risikobereitschaft!" Erzählen Sie das mal alten Leuten oder Kindern, die an den Rand gedrängt werden. Da wird der neoliberale Anspruch als Aberwitz deutlich, als etwas, das gesellschaftssprengende Kraft hat.

Es wird neuerdings beklagt, dass sich die Intellektuellen zu wenig in die politische Diskussion einmischen.

Das ist doch auch ein Ritual. Die gleichen Leute, die danach rufen, dass sich die Intellektuellen einmischen sollen, hauen drauf, sobald die das tun. Bis zur Lächerlichkeit wiederholt sich das. Wie oft habe ich beim Prozess der deutschen Wiedervereinigung zusammen mit Walter Jens und Jürgen Habermas Einspruch angemeldet. Wer hat denn hingehört? Die Frage ist, ob wir weiter mit einem Verfassungsbruch existieren wollen. Im Grundgesetz heißt es: "Im Fall der deutschen Einheit muss dem deutschen Volk eine neue Verfassung vorgelegt werden." Wir haben das nicht getan und sind wie eine Kolonialmacht aufgetreten und haben die östliche Hälfte in Besitz genommen. Das rächt sich bitter. Es ist jämmerlich, dass zehn Jahre nach der Vereinigung der Einheitsgedanke nur auf dem Papier besteht. In manchen Bereichen ist die Teilung durch die Enttäuschung größer als vor dem Mauerfall.

Ihr Jahrhundert-Buch, eine Chronik des Schreckens, endet mit leiser Hoffnung. Kann alles nur besser werden?

"Wenn nur kein Krieg kommt." Das ist der Schlusssatz. Es ist ein schreckliches Jahrhundert gewesen. Aber in meinem Buch spielen ja auch andere, heitere Dinge eine Rolle - Sport zum Beispiel, Erfindungen, Rundfunk, Fernsehen. Ich wollte dieses Jahrhundert nicht nur der Politik überlassen.

Betrachten Sie das Buch schon als eine Art Vermächtnis?

(lächelt): Ich würde das Wort nicht benützen. Aber natürlich ist es ein Kassensturz.

Ein Buch über ein Jahrh, ert ist für ei

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false