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Lolita perplex. Melanie (Melanie Lenz) ist die Tochter der Kenia-Sextouristin aus "Paradies:Liebe" und verguckt sich im letzten Teil der Filmtrilogie in den Diätarzt (Joseph Lorenz).

© dpa/Neue Visionen

Ulrich Seidls "Paradies"-Trilogie: Gänsemarsch und Mädchenblüte

Diesmal geht es um die 13-jährige Melanie, um übergewichtige Mädchen im Diätcamp und eine Liebelei à la Lolita: Mit „Paradies: Hoffnung“ beendet der österreichische Filmemacher Ulrich Seidl seine irdisch-biblische Trilogie.

Paradies: verriegelt. Zuerst fährt eine Frau nach Kenia, um sich dort mit den Beach Boys ein bisschen Lebensglück zu erkaufen. Dann bedrängt ihre Schwester die Nachbarschaft mit sektiererischen Vorträgen, um sie zu einem frommen Lebenswandel zu bekehren. Schließlich ist die nächste Generation dran: ein 13-jähriges Mädchen, Tochter der einen, Nichte der anderen Frau, muss die schulfreie Zeit in einem Diätcamp verbringen, um ihr Übergewicht loszuwerden.

Aus diesem Material hat Ulrich Seidl drei Spielfilme gemacht, die nacheinander im Wettbewerb der drei großen Festivals gezeigt wurden. Ähnliches gelang zuvor nur Krzysztof Kieslowski 1993/94 mit „Drei Farben Blau/Weiß/Rot“. Ein Hattrick: In Cannes lief „Paradies: Liebe“; in Venedig gewann „Paradies: Glaube“ den Spezialpreis der Jury, bei der Berlinale endete die Trilogie mit „Paradies: Hoffnung“, der jetzt auch als letzter Teil ins Kino kommt. Seidl verleiht den biblischen Begriffen Liebe, Glaube, Hoffnung ihre jeweils irdische Dimension: Sex, Missionierung, Fitnesstraining.

Sodomie („Tierische Liebe“) und Fetisch („Der Busenfreund“), Brautschau in Tschechien ("Mit Verlust ist zu rechnen") und Brautsuche per Katalog auf dem asiatischen Heiratsmarkt („Die letzten Männer“) bis hin zu Sextourismus und libidinöser Jesus-Verehrung in den ersten zwei „Paradies“-Filmen: In Seidls filmischem Universum ist fürs Elysium wenig Platz, umso mehr für höllisches Fegefeuer. Hässliche Menschen in hässlicher Umgebung bei hässlichen Verrichtungen bereiten mal Schmerz, mal Scham, mal lösen sie fast auch Gelächter aus.

Der 60-jährige Österreicher, als Regisseur eine Art Insektenkundler, der seine Objekte ungerührt unter der Lupe seziert, lässt seine Protagonisten jedoch nicht allein in ihrem sozialen Elend schmoren. Ein Zeremonienmeister masochistischer Exzesse, versucht er, jedem in seinen Nöten, seiner Verlorenheit gerecht zu werden. So erschafft er, vielfach beschrieben, mit professionellen Schauspielern und Laiendarstellern zwischen Dokumentar- und Spielfilm und stilisiertem Cinéma Vérité eine Mischung aus Grauen und Poesie. Neben improvisierten Szenen stehen distanzierte Tableaus, symmetrisch angeordnete Bildarrangements. In „Liebe“ war es der durch eine Schnur geteilte Strand in Kenia – hier die Touristinnen in ihren Sonnenliegen, auf der anderen Seite die afrikanischen Männer, die ihren Tand und sich selbst feilbieten. In „Glaube“ die vor dem Kreuz knieende Katholikin, die sich für ihren Herrn und Geliebten Jesus kasteit. Nun, im dritten Teil, ist es der Drill in der Turnhalle mit Stillgestanden, Abzählen, Hängen an der Sprossenwand und Schlagen von Purzelbäumen, dazu das sinnlose Exerzieren, Gänsemarsch von links, Gänsemarsch von rechts. Und das kahle Grau der Räume und Hallen, das die weitläufige Institution, in der das Camp stattfindet, in gespenstische Leere taucht.

Seine neun Kino- und zehn Fernsehfilme haben Seidl den Ruf des Tabubrechers und Extremfilmers eingetragen. In „Hoffnung“ greifen diese Zuschreibungen nicht mehr. Melanie (Melanie Lenz“ ist durch ihre Verwandtschaft und ihre überflüssigen Pfunde zwar bereits genug gestraft, das ist aber ebenso wenig extrem wie die triste Anstalt, eher Straf- als Ferienlager. Verglichen mit den erotischen Irrwegen von Mutter und Tante sind es hier nur Schrittchen vom Wege üblicher jugendlicher Irrungen und Wirrungen.

Melanie leidet unter dem Trillerpfeifendrill des schmierigen Fitnesstrainers und verliebt sich in den etwa 40 Jahre älteren Diätarzt (Joseph Lorenz). Anders als in den ersten beiden Filmen der Trilogie fehlt jedoch jede groteske Zuspitzung; die Sprengkraft des Verhältnisses wird bloß angedeutet und milde entschärft zu einer seltsamen Beziehung mit verdruckster Schwärmerei des Mädchens und unentschiedenem Verhalten des Mannes. Er leistet sich ein paar anbiedernde Scherze und bringt sie dazu, mit dem Stethoskop sein Herz abzuhören.

In einer märchenhaft entrückten Szene schläft sie einmal auf der Wiese ihren Rausch aus, er schnüffelt an ihr herum und legt sich neben sie. Da hält der Film, wie der Betrachter, kurz den Atem an – und schon sind die Jugendlichen wieder unter sich, feiern Party auf Etagenbetten mit neugierigen Gesprächen über „das erste Mal“. Wie es war, wann es endlich sein soll, was man machen kann und was lieber nicht. Mal hölzern, mal traurig, mal einfach unbefangen geben sie Einblick in Teenager-Herzschmerz – wobei der Regisseur ihnen bei ihrer Selbstdarstellung mehr Freiheiten gibt als in seinen früheren Filmen.

Man mag darin einen Raum für das titelgebende Prinzip Hoffnung sehen. „Doch das Paradies ist verriegelt“, schrieb schon Heinrich von Kleist. „Wir müssen die Reise um die Welt machen, und sehen, ob es vielleicht von hinten irgendwo wieder offen ist ... das ist das letzte Kapitel von der Geschichte der Welt.“

Kant, Kino in der Kulturbrauerei, Moviemento, Passage. D.m.e:U:: Hackesche Höfe

Helmut Merker

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