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Kultur: Und es begab sich

Der Stern bleibt stehen, das Öchslein brüllt: eine kleine Geschichte der Weihnachtsgeschichte

Keine Feier ohne Leier. Anfangs begleitete die Lyra den singenden Erzähler, seine Hymnen und Balladen. Der älteste bekannte Weihnachts-Song stammt aus dem vierten Jahrhundert: „Höre, der du herrschest über Israel, der du über den Cherubim thronest, erscheine vor Ephraim, richte auf deine Macht und komm! Komm, Erlöser der Heiden, mache kund die Geburt aus der Jungfrau; staunen soll alle Welt: Solche Geburt ist Gottes würdig.“

Zur selben Zeit entsteht die erste Weihnachtspredigt, bald gibt es Liturgien, schließlich Weihnachtsmärchen, Orgeln, Grammophone, Blockflöten, Weihnachts- und Antiweihnachtserzähler, Weihnachtskonzerte, Belegschaftsfeiern, Zimmerschlachten. Wer, einer alten Legende folgend, am 24. Dezember um Mitternacht mit brennenden Adventskerzen auf dem Kopf den traurigsten Ort seiner Stadt aufsucht, wird all diese Geräusche simultan vernehmen – Millionen Versionen, Weihnachten zu beschwören, zu entzaubern, zu verzuckern, die Symphonie der wispernden, tremolierenden, hysterischen Stimmen. Anschwellenden Bedeutungslärm, plappernd, klappernd, unentrinnbar. Tosende Nacht.

„Sehr still war Lucas geworden. Was seine Ohren gehört hatten, das sang und schwang wie Engelsgesang in ihm nach. Er wusste nun: Himmel und Erde würden vergehn, aber diese Worte waren in die Sterne geschrieben. Die flackernden Sterne, der silberne Mond leuchteten ihm auf die Hand. Da tauchte er seine Gänsefeder ins Tintenfass, und dann strömten ihm die Worte zu, so schnell und so gewaltig, dass er mit der flüchtigen Feder kaum zu folgen vermochte. Er schrieb, es schrieb aus ihm im Licht des nächtlichen Himmels das Lied, das unsterblich, von Engelsgeistern gesungen durch die Seele ihm klang: ,Es begab sich aber zu der Zeit, dass ein Gebot vom Kaiser Augustus ausging...’“

So unreflektiert, wie sich der Weihnachtsgeschichtensammler Karl Paetow die Evangelisten-Arbeit um 61 n.Chr. vorstellte, hat dieser Erzählerjob nie funktioniert. Gleichwohl durchzieht Paetows Darstellung ein Hauptmotiv zahlreicher Geschichten – die verklärte Nacht. In dieser Nacht der sprechenden Tiere sputen sich auf dem Weg zur Krippe selbst Schildkröten, das Nilpferd wird anmutig, der Papagei schweigt, der Ochse bläst Flöte. Die verzauberte Natur besingen auch J. R. R. Tolkiens „Briefe vom Weihnachtsmann“ an seine Kinder: Zum Christmas Eve 1940 tanzt auf einer Zeichnung des Vaters der Eisbär mit den Pinguinen. Der am Nordpol hausende Weihnachtsmann meldet kriegsbedingt Geschenkengpässe; 50 Pinguine seien vom Südpol herbeigeeilt, ihm gegen Kobold-Attacken beizustehen. Alles wird gut. Für den, der sehen kann, ist dies die Nacht der Wunder.

Trotzdem kommt dem aufgeklärten Erzähler die Verklärung mitunter abhanden. Nicht jedes Kind der Moderne mag dem Weihnachts-Apologeten G.K. Chesterton folgen, der meint, man könne einander eigentlich auch zur Feier einer Bahnhofseröffnung singend beschenken, aber der Mensch verschreibe sich nun mal „mit Haut und Haar, mit materieller Gier und Überschwänglichkeit, nur etwas Spirituellem. Nimm das Nicänische Glaubensbekenntnis und dergleichen weg, und die Wurstverkäufer haben nichts mehr zu lachen. Nimm das Übernatürliche weg, und was bleibt, ist das Unnatürliche.“

Chestertons Zeitgenossen verzweifeln an der Finsternis ihres 20. Jahrhunderts. Friedrich Dürrenmatt beißt – „Der Himmel schwarz. Die Sterne gestorben. Der Mond gestern zu Grabe getragen. Die Sonne nicht aufgegangen“ – einem augenlosen Marzipan-Jesus den Kopf ab. Ray Bradburys Raumschiff-Junge schaut Heiligabend 2052, „sein Gesicht an das kalte Glas der Luke“ gepresst, einsam „in die tiefe Nacht, in der zehn Milliarden hübsche weiße Kerzen brannten“.

Zur Skeptikergemeinde der Weihnachtsdissidenten zählen die Komiker. Eine Veranstaltung vom Himmel hoch kann tief abstürzen; Komik entsteht aus der Fallhöhe. Für das schrille Finale seines Dreikönigs-Gedichts benötigt Heinrich Heine nur wenige Dissonanzen: „Der Stern bleibt stehn über Josefs Haus, da sind sie hineingegangen; das Öchslein brüllt, das Kindlein schrie, die heil’gen Drei Könige sangen.“ Ironisch wirkt auch die Festbetrachtung Loriots, dessen Förstersgattin ihren gemeuchelten Gemahl („Er war ihr bei der Heimespflege seit langer Zeit schon sehr im Wege“) päckchenweise als Liebesgabe verschickt.

In dem beliebten Sketch „Fritzchen, sag mal ein Weihnachtsgedicht auf“ – „Zickezacke, Hühnerkacke“ können sich Opfer und Täter deutscher Weihnachtsfeiern wiederfinden. Verfremdung als Ventil. Den Wunsch des Anti-Erzählers, klaustrophobischer Erhabenheit zu entfliehen, erfüllt der pränatale Irren-Witz: „Sagt der eine ,Morgen ist Weihnachten’. Sagt der andere: ,Ich geh nicht hin, ich mach ’ne Dose auf.“

Die Fallhöhe des Weihnachtskomplexes ist auch eine Folge der Botschaft von der reinen Liebe. Göttliche Agape, selbstlose Philanthropie, laue Mitmenschelei – passt alles zur Christmas Story. Nur Sex ist eher tabu. Ausnahmen (von Maupassant, Maugham und Borchert) bestätigen die platonische Regel. Ein Pariser Lebemann holt eine üppige Schöne von der Straße aufs weihnachtliche Liebeslager, wo diese unverhofft niederkommt, auf dass er lebenslang Alimente zahlt. Zur Befriedigung einer Frachterpassagierin, einer nervenden alten Jungfer, wird der knusprige Bordfunker abkommandiert, damit die Offiziere ungestört Bescherung feiern können. Ein schmächtiger Soldat läuft durch Nebelstraßen einem Mädchen hinterher: „Wenn ich denke, was du noch hast außer den Beinen, dann kann man sich schon allerhand ausdenken. Wenn die nächste Laterne kommt, rede ich dich an. Vielleicht wird es was. Mensch, du riechst so. Das habe ich noch nie gerochen. Kuck mal, hinter den Gardinen haben sie Weihnachten. Vielleicht auch Grünkohl. Nur wir beide sind draußen. Wir sind ganz allein in der Stadt.“

Wie privat ist Weihnachten? Ein Weltumarmungsereignis schrumpft zur Selbstumarmungsparty. An den oft erzählten „Weihnachtsgeschichten aus schwerer Zeit“ (ein Buch der Kriegsgräberfürsorge) wird diese Engführung beklemmend deutlich. Die Erlebnisberichte beschwören Heimatnostalgie, die bittere Front-, Gefangenen- oder Vertriebenenweihnacht und eine Überraschungsrettung in trostloser Lage. Politischer Kontext ist ausgeblendet, der deutsche Gemütlichkeitstraum – „Auch Männer können weinen“ – wird samt Tannenbaum-Ersatz idealisiert. Weihnachten ist die Chiffre der guten alten Zeit.

Keine Feier ohne Leier. Irgendwann wird aus dem bürgerlichen Traditionsritual ein Mummenschanz. Heinrich Bölls Satire „Nicht nur zur Weihnachtszeit“, die mit damit endet, dass das allabendliche Christfest an ein Schauspielerteam delegiert wird, hatte einen dramatischen Vorläufer. In Karl Valentins prolliger Farce „Das Christbaumbrettl“ von 1922 besorgt der Vater am 24. Juni ein billiges Bäumchen, setzt es in Brand, löscht die Flammen, das Glöcklein wird geläutet, ein Gedicht aufgesagt, geweint, gestritten, Mobiliar umgeworfen und der Kaminkehrer eingelassen – wie im richtigen Leben.

Der revolutionäre Maxim Gorki wiederum düpiert seine Leser, die gewohnt sind, dass ein Weihnachtserzähler – zur Steigerung der Moral und der Behaglichkeit – Kinder erfrieren lässt. Das sei töricht, da es selbigen Kindern auch möglich sei, „auf gewöhnliche und natürliche Weise zugrunde zu gehen“.

Doch manchmal halten Erzähler zwischen Enttäuschung und Zuversicht die Schwebe. Truman Capotes „Weihnachtserinnerung“ dreht sich um solch ein schüchternes Glück, um das Backen von Früchtekuchen für alle Welt und die Liebe eines Siebenjährigen zu seiner wunderlichen alten Base: um „ein verirrtes Drachenpaar, das, fast zwei Herzen gleichend, gen Himmel eilt“. Elke Heidenreichs Erzählung „Erika“ präsentiert mit dem titelgebenden Riesenplüschschwein einen skurrilen Christkind-Ersatz. Das beziehungsstiftende Maskottchen begleitet seine Besitzerin auf ihrer Irrfahrt durchs schweizerisch-italienische Grenzgebiet. „,Scheißweihnachten’ sagte ich und legte noch ein Stück Holz nach, und Franco sagte ,Erika’, und der Kopf fiel ihm herunter. Als ich aufwachte, war es gegen Morgen, und das Feuer war ausgegangen. Steif geworden hing ich in meinem Stuhl, das Grappaglas lag in Scherben auf dem Boden. Tageslicht drang durch die Vorhänge, und quer über den Tisch lag der dicke Franco, den Kopf auf Erika gebettet, und schlief. Die Straße lag still und leer da, ich sah zur Pensione Montealbina hoch und dachte: ,Alles Gute, Erika, tröste ihn, du kannst es!’, und ging zum Bahnhof.“

Wie kommt das Neue in die Welt? Der erste Weihnachtserzähler Lukas folgte beim Verfassen seiner berühmtesten Geschichte der literarischen Gattung des Midrasch. Das sind jene hebräischen Bibeluntersuchungen, die davon ausgehen, dass Gott sich in immer wieder gleichen Gesten und Worten artikuliert; weshalb spätere Ereignisse unter Verwendung früherer Berichte niedergeschrieben werden. Der heidenchristliche Arzt und Ikonenmaler Lukas hat die Bibel kaum genug gekannt, um eine solche Adaption der Bücher Genesis, Exodus, Richter, Samuel, Judith, der Psalmengesänge sowie der Propheten Jesaja, Micha, Sophonias und Malachias selbst vorzunehmen. Er übersetzte lieber einen vorliegenden judenchristlichen Midrasch aus dem Aramäischen ins Griechische. Die MidraschTheorie besagt: Das Neue hat immer schon angefangen, Rettung ist längst unterwegs.

Darüber hinaus gibt es in der Bibel die prähistorische Erzählung von der besonders ungewöhnlichen Zeugung des Gottessohnes, jenseits aller Sphären. Auch die Botschaft, dass der Mensch Gott werden soll, weil Gott Mensch geworden sei, gehört zu den Weihnachtsgeschichten – wie der obdachlose Säugling im Viehstall.

Wer heute um Mitternacht den höchsten Turm seiner Stadt besteigt und die Augen schließt, wird all diese Bilder erblicken: die rosafarbene Plüsch-Erika, Karl Valentins Christbaumbrettl-Familie und die bethlemitischen Ikonen des Lukas, erfrorene Kinder, tanzende Pinguine, kosmischen Jubel und die alte Jungfer mit dem süßen Bordfunker. Ausgeschlossen wird offenbar keiner von Weihnachten, selbst wer nur ’ne Dose aufmachen will, kriegt seine Chance.

So kommt das Neue in die Welt: Unterm Dosendeckel steckt auf einmal der sprechende Karpfen, eine mysteriöse Schneekugel oder die ewig blühende Rose. Gesegnet, wer jetzt den Rosenöffner bei sich hat.

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