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Kultur: Und es wird abermals Winter

Das bärtige Gesicht mit den blauen Augen ist das markanteste in der langen Reihe der Häftlinge, die stumm ihre Suppe löffeln.Den Jüngeren mit ihren kahlgeschorenen Schädeln könnte man schon ein Verbrechen zutrauen, doch erinnert dieser Alte nicht geradezu an Leo Tolstoi?

Das bärtige Gesicht mit den blauen Augen ist das markanteste in der langen Reihe der Häftlinge, die stumm ihre Suppe löffeln.Den Jüngeren mit ihren kahlgeschorenen Schädeln könnte man schon ein Verbrechen zutrauen, doch erinnert dieser Alte nicht geradezu an Leo Tolstoi? Wenn es in "Pelym" nur dieser Kopf wäre, der fasziniert! Aber der fast zweistündige Film von Andrzej Klamt und Ulrich Rydzewski über die Menschen in russischen Straflagern strahlt ein ungewöhnliches Vertrauen zum Leben aus, wie es dem großen Dichter wohl gefallen hätte.

Ohne ein einziges Kommentarwort stellen die Autoren Beobachtung neben Beobachtung, Gespräch gegen Gespräch, Impression zu Impression.Meist leitet ein Detail, etwa ein Blick durch ein Fenster oder auf eine Hand mit Zigarette, eine Bildfolge ein, die dann durch Schwarzblende von der nächsten getrennt wird.Keine Schwenks, statische Einstellungen.Der Zuschauer muß selbst miterleben, wie die Zeit vergeht und doch alles beim gleichen bleibt.

Klamt und sein Kameramann wie Mitautor Rydzewski brauchen dieses Mitatmen des Betrachters.Mit schnellem Spiegel-TV, das die Argumente flott addiert, hat ihr Bericht von dem nördlich des Ural gelegenen Straflager nichts zu tun.Umso mehr erinnert der Film an die Zone in "Stalker", ohne die religiöse Erwartung Tarkowskis zu teilen."Wir mähen das Gras, wir rechen ..." erzählt die Bäuerin, die mit dem Enkel vor ihrer Hütte sitzt, und sie weiß sich trotz Mückenplage eins mit der Weltordnung, zu der auch die Häftlinge im Lager nebenan gehören."Sie tun uns nichts." Wenn einer vor der schlechten Behandlung, der harten Arbeit und der schlechten Ernährung flieht, haben die Leute Mitleid mit ihm.

Man spürt in diesem Film einen langen, einen russischen Atem.Das Grausame des Freiheitsdurstes und das fatale Sichfügen gehören da zusammen.Ein Gefangener, der schon 16 Jahre in Lagern zugebracht hat, weiß schon jetzt, daß er wieder "einen überflüssigen Menschen" umbringen wird.Schon als Kind habe er sich mit der Ordnung angelegt."Gesellschaftlicher Abfall", sagt der Leiter dieses vor 400 Jahren gegründeten, unter Stalin enorm erweiterten Lagers.Umgekehrt halten manche Häftlinge die heutige Gesellschaft für verkehrt eingerichtet."Unter Stalin war es fröhlicher."

Viel über Rußland und seine akute Krise, die sich auch im Verfall vieler Siedlungen im hohen Norden zeigt, ist aus diesem Film zu erfahren."Für Brot gibt dir niemand Geld, für Wodka schon", spottet ein junges Paar, das selber zur Flasche greift.Ohne Wodka kann auch der stolze Fischer, ein zum Eremiten gewordener Ex-Häftling, das Dasein nicht ertragen.Wieviel Grausamkeit sich hinter der Lethargie innerhalb und außerhalb der Lager verbirgt, vermag der Film nur anzudeuten.In seinen wie gemalten Landschaftspastellen, den meisterhaft ruhigen Einstellungen und in den herzergreifenden Häftlingsliedern markiert er die lyrische Seite der Not,in der sich die Menschen als größer erweisen als die sinnlose Zeit.

Solchen Botschaften der russischen Seele lauschte Deutschland schon immer gern.So auch hier: Nach der Auszeichnung auf dem Münchener Dokumentarfilmfestival erhielt "Pelym" den Arte-Dokumentarfilmpreis der deutschen Filmkritik.

HANS-JÖRG ROTHER

Babylon, Berlin Mitte, nur heute, 19 Uhr

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