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Kultur: Unsere kleine Stadt

Eine Reise mit Kulturstaatsministerin Christina Weiss durch die ostdeutsche Theaterprovinz

„Versuchen Sie’s doch mal im Alten Sack“, sagt die Kellnerin und zieht mit Schwung das gusseiserne Tor zu, „wir schließen gerade“. Im „Alten Sack“ halten sich drei Halbstarke an ihren Biergläsern fest. Ob hier noch warme Speisen serviert würden? Die Barfrau mit der Gesine- Schwan-Frisur lächelt müde: „Sie sehen doch, was hier los ist. Da kommen nicht einmal die Unkosten rein.“ Es ist erst Viertel vor Zehn in Zittau, doch unter der Schneedecke schnarcht das sächsische Städtchen schon dem grauen Morgen entgegen. Nur im Gerhard-Hauptmann- Theater brennt noch Licht, sitzen im Foyer, das auch als Kantine fungiert, Künstler und Besucher zusammen. In dieser kalten Märznacht ist die Bühne das Herz der 25000-Einwohner-Gemeinde. Und an allen Tagen des Jahres auch. 340 Mal hebt sich der Vorhang hier pro Spielzeit. 70000 Menschen hat Intendant Roland May in der vergangenen Saison in dem schlichten Zweckbau aus den Dreißigerjahren gezählt. Statistisch gesehen geht jeder Zittauer fast drei Mal im Jahr in sein Theater.

„Wenn ich beim Bäcker Brötchen kaufen gehe“, erzählt Gilbert Mieroph, der als Regisseur und Schauspieler angestellt ist und gleichzeitig auch noch den Theater-Jugendclub leitet, „passiert es mir regelmäßig, dass die Verkäuferin kein Geld dafür annehmen will“. Auch beim Friseur ist er schon umsonst bedient worden. Wenn sie solche Geschichten hört, lächelt Christina Weiss. Die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien sitzt im Foyer des Gerhard-Hauptmann-Theaters und hört zu. Um sich zu wappnen für die Fragen, die ihr in der Hauptstadt ständig gestellt werden. „Überall werden Theater geschlossen – wie wehren Sie sich dagegen?“, rufen ihr die Leute zu. Weil aber die Zahlen eine andere Sprache sprechen, weil es im Deutschland des Jahres 2005 immer noch 150 staatlich finanzierte Bühnen gibt, macht sich Christina Weiss auf den Weg in die Provinz, um die Situation in Augenschein zu nehmen. Und die Vielfalt zu preisen. „Ich bin in einer saarländischen Kleinstadt groß geworden“, erzählt sie, „und ich habe schon damals verstanden, dass von allen Künsten das Theater die kommunalste Kunst ist“. Der städtische Treffpunkt schlechthin. Ein Ort vielfältigster Kommunikation.

Eigentlich darf die Kulturstaatsministerin das gar nicht. Sich in den Dienstwagen setzen, durch die Theater tingeln und dann auch noch ihre Meinung zu Themen kundtun, die den Bund laut Gesetz nichts angehen. Wie Kettenhunde wachen die Landesväter darüber, dass Weiss die Regeln des Föderalismus einhält. Als sie jüngst versuchte, die ostdeutschen Länder zu bewegen, öffentlich zu erklären, dass ein Prozent der Solidarpakt II-Mittel in Kulturinvestitionen fließen werden, ließen die CDU-Ministerpräsidenten sie auflaufen. Wenn sie die Berlin-Brandenburgische Akademie der Künste vor einem finanziellen Desaster retten will, klopft Baden-Württemberg an die Tür des Verfassungsgerichts. Trotzdem hat die Bundesbeauftragte eine „Theaterinitiative“ gestartet, hat Zittau, Meiningen und Senftenberg besucht. Weitere Reisen, auch in die Altbundesländer, sind geplant.

Gleich beim ersten Stopp lernt sie viel über die eigentümlichen Liebesbeziehungen zwischen Bühnen und ihrem Publikum. Und über „Erreichbarkeit von Helden“, wie es der Chemnitzer Chefdramaturg Karl-Hans Möller nennt. Das deutsche Stadttheatersystem mit seinen festangestellten Ensembles macht die Identifikation möglich: Wer seinen Lieblings- Schauspieler in immer neuen Rollen erleben kann, wer ihm zudem auch in der Stadt über den Weg läuft, wird zum Stammkunden. Und kauft sich dann auch mal Tickets für eine Uraufführung, die er sonst wohl gemieden hätte. In Häusern, die als Hüllen für tingelnde Tourneetruppen fungieren, lässt sich dieses Vertrauensverhältnis niemals herstellen.

Auch die Meininger lieben Theater. Vor allem jenes, das hier früher stattfand. In dem Städtchen am südwestlichsten Zipfel Thüringens hatte Herzog Georg II. Ende des 19. Jahrhunderts einen Schauspielstil entwickelt, der Bühnenrealismus und Texttreue zum höchsten Gut erklärte. Ohne Meiningen gäbe es kein Hollywood, behauptet man hier stolz. 88 Prozent Auslastung hatte das Theater noch vor kurzem. Und das, obwohl hier gerade einmal 23000 Menschen wohnen. Das prunkvolle klassizistische Gebäude mit 731 Plätzen zieht Publikum aus einem Umkreis von 100 Kilometern an.

Derzeit allerdings kommen die Hessen und Franken vor allem, um mit den örtlichen Theaterfans gemeinsam gegen Res Bosshardt zu buhen. Als der Schweizer vor gut zweieinhalb Jahren Intendant wurde, brachte er jene Ästhetik mit, die er als Chef des Hamburger Off-Kulturzentrums „Kampnagel“ entwickelt hatte. Metropolen-Avantgarde mit Hang zur Klassiker-Dekonstruktion aber kommt in Meiningen gar nicht gut an. Wenn in einer Großstadt die Leute mit dem Stil eines neuen Hausherren nicht zurechtkommen, wandern sie einfach ab zur Konkurrenz. In der Provinz geht das nicht. Denn jedes Stadttheater ist ein lokaler Monopolist. Also kommen die Bürger weiterhin – und kämpfen. Mit Türenknallen und Zwischenrufen, bei hitzigen Diskussionen im Foyer nach jeder Vorstellung, die von ihren Vorstellungen abweicht.

Wer aus Meiningen kommt, dem erscheinen die Bauerbacher fast als Außerirdische. Wenige Kilometer sind es nur bis zu dem Dörfchen, wo der 23-jährige Friedrich Schiller 1782 Asyl fand, nachdem er beim Württembergischen Herzog in Ungnade gefallen war. Seit 1959 wird der Dichterfürst alljährlich mit Freiluftaufführungen gefeiert. 118 der 315 Einwohner sind im Theaterverein aktiv - und die engagierten Amateure scheuen sich nicht, bei der Stippvisite der Kulturstaatsministerin zwischen den Gängen des „Schiller-Menues“ mal eben eine Szene aus der „Jungfrau von Orléans“ zum Besten zu geben. Kaum zu bremsen ist auch die ehrenamtliche Bürgermeisterin Rosemarie Fickel, die der Politikerin vehement ans Herz legt, einen Fördertopf einzurichten, aus dem ABM-Kräfte für Laienspieltruppen finanziert werden. Erschöpft und gerührt steigen die Staatsministerin und ihr Tross wieder in den Reisebus.

Mit Zynismus kommt man nicht weit in der Provinz – das ist wohl die Haupterkenntnis, die Christina Weiss von ihrer ersten Theaterreise mitnehmen wird. Dafür hat das Kleinstadtpublikum einfach zu heiße Herzen. Die Währung, in der hier gehandelt wird, ist die „Zuwendung“. Wenn der Staat in Krisenzeiten Geld für die Kultur locker macht, sollten sich die Intendanten im Gegenzug auch dem Steuerzahler zuwenden. „Ein guter Intendant ist wie ein guter Wirt“, findet auch Weiss. „Er muss den Leuten das Gefühl geben, gerne Gastgeber zu sein.“ So wie Sewan Latchinian. Dass er Theaterchef sein darf in einer 29000-Seelen-Gemeinde mit 27 Prozent Arbeitslosigkeit wie Senftenberg, wo sich noch nicht einmal ein Investor für das örtliche Lichtspielhaus findet, nimmt er nicht als Selbstverständlichkeit hin. In diesem „gedemütigten Winkel“ des brandenburgischen Braunkohlereviers will er „sinnlich beweisen, wie gut Theater der Seele tut“. Künstlerisch muss das keine Bankrotterklärung sein, wie die 90-Minuten-Version von Wedekinds „Frühlingserwachen“ zeigt, die mutig Originalplot und heutige Probleme mixt. Die Konzentration, mit der die Jugendlichen das pralle Erzähltheater verfolgen, empfinden die Senftenberger Darsteller als größtes Lob. „Ich will die Leute nicht leer nach Hause gehen lassen“, sagt die Schauspielerin Juschka Spitzer, „sondern mit einer Geschichte im Kopf“.

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