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Der Schweizer Lyriker Urs Allemann, Jahrgang 1948

© Klever Verlag

Urs Allemanns "Carruthers"-Variationen: Partisan der Poesie

Der "Babyficker"-Autor Urs Allemann provoziert wieder einmal mit einem ebenso rabiaten wie hochkomischen Tabula-Rasa-Lyrikband.

Kulturgehorsam und literarisches Appeasement an den Mainstream kann man diesem Dichter nicht vorwerfen, im Gegenteil. Urs Allemann, Jahrgang 1948, der vor Jahren aus der Schweiz nach Goslar geflohene Schriftsteller und Poesie-Performer, ist ein literarischer Extremist.

Seit seinem späten Debüt 1988 mit dem Gedichtband „Fuzzhase“ hat er vieles unternommen, um aus seiner „Verzweiflung über die unüberbrückbare Kluft zwischen der Sprache und ihrem Gegenstand“ ästhetische Konsequenzen zu ziehen.

Wer einmal erlebt hat, wie dieser Dichter seine Texte rezitiert, spürt sofort, dass hier ein Sprachbesessener am Werk ist – ein Partisan der Poesie, der nach allen Regeln der Kunst und Antikunst unsere Literaturfrömmigkeit attackiert.

"Babyficker" sorgte 1991 für einen Skandal in Klagenfurt

Sein Prosatext „Babyficker“ wurde 1991 beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt skandalisiert und provozierte massive Fehldeutungen, gegen die auch akribische Textanalysen ohnmächtig blieben.

Nach längerem Schweigen des Autors erschienen nach 2001 drei Gedichtbände beim Schweizer Lyrik-Verleger Urs Engeler, in denen Urs Allemann seiner Lieblingsbeschäftigung nachging: der wuchtigen Kontrafaktur, Überschreibung und Neukomposition antiker Odenstrophen und Elegien.

Das jüngste Projekt Allemanns zelebriert nun erneut eine ebenso rabiate wie hochkomische Tabula-Rasa-Aktion. Als sehr handlungsarmer Protagonist seiner „Carruthers-Variationen“ firmiert eine rätselhafte Figur namens „Carruthers“ (an einigen Stellen auch „Joseph Carruthers“), dessen Herkunft, Verortung, Persönlichkeitsprofil und Biografie uns vorenthalten werden. (Klever Verlag, Wien 2022. 110 S., 18 €.)

Allemanns „Carruthers“ ist nur eine Spielfigur in einem sehr eigenwilligen Sprachexerzitium, das in den sechzehn Variationen mal als absurde Burleske, mal als obszöner Schocker daherkommt.

Da hüpft dem Würger die Mütze vom Kopf

Das Sprecher-Ich berauscht sich an der manischen Repetition eines einzigen Satzes und setzt allerlei Assoziationen und fiktive Erinnerungsfragmente frei: „Ich hatte den alten Carruthers mit dem Spaten niedergeschlagen.“

Durch lustvolle Wiederholung kommt es zu immer absurderen Weiterungen dieses seltsamen Satzes, der sich assoziativ verzweigt in boshafte Zusatz-Sätze und ketzerische Selbstreflexionen des Sprecher-Ichs.

Die sich in Rage und Aggression hineinredende Ich-Instanz kokettiert auch gerne mit verballhornten Zitaten: „Als Onkel Joseph aufwachte mit einem Spaten im Mund, wusste er, dass er nicht aufgewacht, sondern exekutiert worden war.“

Im Fortgang der „Carruthers-Variationen“, die von der „Short-Story“ über die „Weihnachtsballade“ bis zum „Knittelghasel“ und der „klassizistischen Aberration“ alle erdenklichen Formen ausprobieren, akkumuliert er weitere „normenschreddernde Exzesse“ und groteske Bilder sexueller Grenzüberschreitung.

In einem „Potpourri“ mixt Urs Allemannschließlich etwa dreißig Passagen aus Rilke-, Benn- und van Hoddis-Gedichten zu einem heiteren Dekonstruktions-Stück. Eine berühmte van-Hoddis-Zeile klingt hier so: „Dem Würger (sick!) war vom immerspitzen Däätz die Mütze gehüpft.“ So viel Abrissarbeit an der poetischen Tradition war noch nie.

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