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Kultur: US-Wahlchaos: Gleichgewichtsstörungen

Al Gore atmet wieder auf, der nächste US-Präsident lässt weiter auf sich warten, und schon macht das Wort von der Verfassungskrise die Runde: Im Kampf ums Weiße Haus tun sich neue Abgründe und Chancen auf. Als die Obersten Richter von Florida anordneten, dass in dem Bundesstaat doch noch einmal ausgezählt werden müsse, öffneten sie nach Ansicht des kalifornischen Juraprofessors John Yoo die Büchse der Pandora.

Al Gore atmet wieder auf, der nächste US-Präsident lässt weiter auf sich warten, und schon macht das Wort von der Verfassungskrise die Runde: Im Kampf ums Weiße Haus tun sich neue Abgründe und Chancen auf. Als die Obersten Richter von Florida anordneten, dass in dem Bundesstaat doch noch einmal ausgezählt werden müsse, öffneten sie nach Ansicht des kalifornischen Juraprofessors John Yoo die Büchse der Pandora. Zwar durfte der demokratische Vizepräsident Gore seine Abdankungsrede noch einmal in die Schublade zurücklegen, doch zum Feiern war es viel zu früh. Der Republikaner George W. Bush denkt nicht ans Aufgeben. Im Präsidentschaftsstreit entscheidet womöglich erst der US-Kongress.

Für Gore war der Sieg vor dem Obersten Gericht von Florida eine entscheidende Etappe. Noch wichtiger war jedoch, dass wirklich mit dem Zählen begonnen werden musste. 154 Stimmen Vorsprung hatte Bush nach dem Spruch der Obersten Richter. Gore musste den Abstand aufholen, damit ihn die Öffentlichkeit wieder als legitimsten Anwärter auf das Amt sieht. Die Republikaner suchten dies mit allen Mitteln zu verhindern. Bushs Anwälte klingelten Sturm bei allen Berufungsinstanzen, bis hin zum US-Verfassungsgericht.

Die beherrschende Rolle in allen Strategien der Kandidaten spielte wieder der Faktor Zeit. Schafft Gore es nicht, bis Dienstag sämtliche umstrittenen Stimmen von Hand auszuzählen und alle juristischen Schachzüge der Republikaner abzuwehren, dann tritt das Parlament von Florida auf den Plan. Die republikanische Mehrheit in der Volksvertretung war fest entschlossen, dem Obersten Gericht zu trotzen und die 25 Wahlmänner des Bundesstaates dem Gouverneur von Texas zuzuschlagen. Die noch vor kurzem als abwegig betrachtete Möglichkeit, dass zwei konkurrierende Elektorenlisten aus Florida nach Washington geschickt werden, ist plötzlich Realität.

Verfassungskrise bedeutet, dass die ausgeklügelte Balance zwischen Legislative, Exekutive und Judikative aus dem Gleichgewicht gerät, und dass nicht mehr klar ist, welche Institution in einer Streitfrage das letzte Wort hat. In den USA wurde am Wochenende befürchtet, dass sich das Chaos in Florida auf die Verfassungsinstanzen des Bundes übertragen würde. Von dieser Angst getrieben, entschloss sich der Vorsitzende Richter des Obersten Gerichts von Florida am Freitag, das Urteil seiner Kollegen nicht mitzutragen.

Die US-Bürger schwanken angesichts der Achterbahnfahrt um die Präsidentschaft zwischen Erschöpfung und Gelassenheit. "Dieses Hin und Her könnte die Glaubwürdigkeit unserer Institutionen ernsthaft gefährden", meinte der Psychologe Frank Farley von der Temple University. Ein Durcheinander sei noch keine Krise, sagte hingegen der Historiker Alan Brinkley von der Columbia University. "Für viele Leute ist es nur ein dumpfes Grollen im Hinterstübchen ihres Bewusstseins."

Das Grundvertrauen der US-Bürger in ihr System ist tief, und die Verfassung scheint für jeden Krisenfall eine Lösung bereitzuhalten. Fast jede Widrigkeit ist in der US-Geschichte schon vorgekommen. Selbst wenn wider Erwarten am 20. Januar kein neuer Präsident feststehen sollte, ist die Nachfolge von Bill Clinton klar geregelt, denn in diesem Fall wird Parlamentspräsident Dennis Hastert der mächtigste Politiker der Welt. Der Hindernislauf ums Weiße Haus beweise die Dauerhaftigkeit des US-Systems, meint der Historiker Michael Beschloss. "So seltsam es klingen mag, die Gründerväter hätten garantiert mit Lust verfolgt, was gerade geschieht."

Henriette Löwisch

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