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Das Rauschen der Wälder. Der junge Trond (Jon Ranes), beim Ausritt mit seinem Vater (Tobias Santelmann).

© Nordisk Film

Vater-Sohn-Drama „Pferde stehlen“: Die Erinnerung als Naturgewalt

Hans Petter Molands „Pferde stehlen“ ist eine Vater-Sohn-Geschichte, eine Kriegsgeschichte, eine Saga über Schuld und Vergebung. Von der Wucht der Erinnerung.

Erinnerung ist unberechenbar. Sie überfällt einen urplötzlich, verschwindet, will man ihrer habhaft werden und sucht einen mit Macht wieder heim.

Flackernde, stechende Bilder. Besonders, wenn sie mit Schmerz verbunden ist, mit dem, was sich nicht bewältigen lässt. Du entscheidest selbst, wann es wehtut“, sagt Tronds Vater, als der Junge mit der Sense die Wiese mäht und in die Brennnesseln fasst.

Der Satz fällt öfter in der Verfilmung von Per Pettersons norwegischem Bestseller „Pferde stehlen“. Stimmt er aber auch? Eigentlich ist der alte Trond (Stellan Skarsgård) in das Haus am Wald gezogen, um nicht mehr behelligt zu werden. Nur manchmal, zum Beispiel wenn er hinter einem schlingernden Laster voller Baumstämme herfährt, sucht ihn die Erinnerung an den Autounfall heim, bei dem seine Frau ums Leben kam.

Selbst den bevorstehenden Jahrtausendwechsel, die Silvesternacht 1999, will er alleine mit seinem Hund verbringen. Aber dann trifft er seinen Nachbarn Lars, auch er ein alter Mann. Und während die beiden über ihre Hunde plaudern, falls sie nicht wortkarg ein Mahl verzehren oder gemächlich mit der Motorsäge die umgestürzte Birke zerlegen, bricht sich eine andere Erinnerung Bahn. Die an den Sommer 1948.

Erinnerung als Naturgewalt

Regisseur Hans Petter Moland – man kennt den in den USA lebenden Norweger vor allem von seiner Rachestory „Einer nach dem anderen“ (ebenfalls mit Skarsgård) und seinem eigenen Hollywood-Remake „Dark Powder“ (mit Liam Neeson) – schlägt diesmal keine Actionthriller-Töne an, sondern setzt die Erinnerung als Naturgewalt in Szene.

Mit Close-ups ins tiefe Gras oder zur Gischt des über Steine stürzenden Bachs, mit Schneesturm und wilden Winden, mit Raubvögeln, die in Zeitlupe ihre Schwingen ausbreiten, und einem eindringlichen Sound, vom Insektenbrummen bis zum Grollen der Rundhölzer, wenn sie Richtung Schweden zu Wasser gelassen werden. „Pferde stehlen“ lebt von einer kraftvollen, die Schönheit der norwegischen Landschaft beim Wort nehmenden und sie zugleich überhöhenden Poesie.

[„Pferde stehlen“ in den Kinos Acud, b-ware! Ladenkino, Delphi Lux, Kulturbrauerei, Hackesche Höfe, Il Kino (auch OmU)]

Geschmacksverstärker, könnte man sagen. Aber die Bildkraft hat ihren Sinn. Denn der Sommer ’48, den der 15-jährige Trond (Jon Ranes), wie schon die Sommer zuvor, mit seinem Vater (Tobias Santelmann) in einer Sennhütte nahe der schwedischen Grenze verbringt, markiert das so leise sich anbahnende wie drastische Ende seiner Kindheit.

Er geht Pferde „stehlen“ mit dem Nachbarsjungen: Sie springen von Tannen herab auf weidende Pferde und jagen durchs Feld, bis Trond rüde abgeworfen wird. Und merkt zunächst nicht, wie verstört der Nachbarsjunge ist: Ein paar Stunden zuvor hatte dessen kleiner Bruder Lars beim Spielen versehentlich den Zwillingsbruder erschossen.

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Eine Vater-Sohn-Geschichte

Trond mäht mit den Dörflern die Weide, sie rammen Pfähle in die Erde, spannen Drähte für die Heureiter, und dabei beobachtet er seinen Vater mit Jons und Lars’ Mutter (Danica Curcic): Die beiden sind ein heimliches Paar, im Krieg schmuggelten sie Widerstandskämpfer über die Grenze.

Am Ende des Sommers wird der Vater Tronds Familie für die andere Familie verlassen, Trond sieht ihn nie wieder. Er entdeckt die Liebe, die Fehler und Schmerzen der anderen, die eigene Überforderung. Du entscheidest selbst, wann es wehtut: Es bedeutet, mit dem Verlust zu leben, mit den flackernden, stechenden Bildern.

„Pferde stehlen“ ist eine Vater-Sohn-Geschichte, eine Kriegsgeschichte, eine Saga über Schuld und Vergebung. Die vier Zeitebenen des Romans verknäueln sich im Film mitunter (wobei die NS-Zeit arg skizziert, ja kostümiert bleibt). Aber auch die Erinnerung folgt ja keiner linearen Chronologie.

Lars, das Kind, das unschuldig zum Mörder seines Bruders wurde, es ist der Nachbar ein halbes Jahrhundert später. „Er bindet mich an eine Vergangenheit, die ich hinter mir geglaubt hatte", heißt es im Buch wie im Film, „und schiebt die fünfzig Jahre mit einer Leichtigkeit zur Seite, die nahezu unanständig wirkt.“

Die Gefahr bleibt

Diese paradoxe Leichtigkeit haftet auch dem Film an – wenn Vater und Sohn im Sommerregen nackt auf den Händen laufen, bei den alltäglichen Verrichtungen. Moland setzt die Stofflichkeit der Dinge ins Bild und mit ihnen, bei aller Leichtigkeit, die Wucht der Vergangenheit. Kameramann Rasmus Videbæk wurde dafür mit dem Silbernen Bären ausgezeichnet.

Er zeigt die Bäume, das Holz, immer wieder. Ihren Fall im tosenden Sturm, wenn Tronds Vater die Tannen vor der Hütte mit der Axt fällt, das Stapeln der Stämme am Ufer. Ihr Gewicht, wenn das Holz in den Fluss donnert. Und die Gefahr, die noch lauert, als Trond viele Kilometer weiter die verkeilten Hölzer unter Wasser zu lösen versucht.

Die Erinnerung fließt nicht. Sie stockt, sie sträubt sich, sitzt fest. Die Gefahr ist nie gebannt.

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