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Freibeuter. Klaus Wagenbach.

© dpa

Verleger Wagenbach: Bilanzen studieren? Gedichte lesen!

Erziehung des Gefühls: Dem großartigen Verleger Klaus Wagenbach zum 80. Geburtstag. Ein persönliches Porträt.

Kennengelernt habe ich ihn 1982. Der sechs Jahre zuvor gestartete Frankfurter Wissenschaftsverlag, in dem ich ein Jahr lang gearbeitet hatte, war pleite. Und weil es sich um ein im weitesten Sinne linkes Unternehmen handelte, fühlte sich Klaus Wagenbach mit der zu jener Zeit selbstverständlichen Solidarität für die Autoren, die Hauptleidtragenden, verpflichtet, den Leuten die Leviten zu lesen, die den Karren in den Dreck gefahren hatten. Zur Buchmesse kam er in den Verlag, kanzelte die Verantwortlichen ab und verließ den Laden – mit mir als Konkursmasse, denn ich konnte Spanisch. So kam ich nach Berlin, erst als Volontär, dann als Verlagslektor. Ich blieb fast 20 Jahre.

Gelernt im schulmeisterlichen Sinne habe ich in dieser Zeit wenig. Klaus Wagenbach war nie ein pingeliger Lehrmeister. Der wirtschaftliche Aspekt des Verlagslebens erschöpfte sich für mich lange in einer mit Bleistift skizzierten Kalkulation für ein zehn Mark teures Buch, die er mir bei unserer ersten Begegnung hinkritzelte. Auch wie man einen Text redigiert, Fahnen korrigiert, lernte ich eher im Prozess der Resultate.

Lernen fand in diesem Verlag überhaupt atmosphärisch statt. Das allerdings war ein unvergesslicher Vorgang. Westberlin war eine scheinbar vom Rest der Welt isolierte Inselstadt – paradoxerweise aber genau der Ort, an dem der Blick über den deutschen Tellerrand leichter fiel als anderswo. Hier konnte man BBC so deutlich hören wie einen UKW-Sender. Einer meiner ersten Wagenbach-Aufträge war eine Fahrt über die Grenze nach Ostberlin, in ein Land, das bis 1989 den meisten im Westen so vertraut war wie Kamerun.

Die Internationalität des Verlags begann zu der Zeit zu einem Markenzeichen zu werden: Das bezog sich keineswegs allein auf die in Wagenbachs Perspektive zu einer Art kulturellem Subkontinent stilisierte italienische Halbinsel. In den 80er Jahren schickte sich der Verlag an, seine Fühler nach ganz Westeuropa auszustrecken. Dass die Himmelsrichtung so eindeutig war, lag an den vorhandenen Fremdsprachen, zu denen die slawischen nun einmal nicht gehörten. So entdeckte man Frankreichs kultur- und mentalitätshistorische Avantgarde und die englischen Sozialhistoriker. Aus Spanien, damals noch eine unerhört interessante terra incognita, später aus Lateinamerika, kamen die ersten Autoren hinzu. Sie ergänzten das ohnehin Gepflegte: ein Programm, das sich seit Gründung des Wagenbach-Verlags 1964 wie kein anderer Buchverlag in die politischen Verhältnisse der Bundesrepublik Deutschland eingemischt hatte und dies mit Streitschriften, Pamphleten, Vorschlägen weiterhin tat.

Als Lektor bei Wagenbach wurde man nicht fürs Lesen bezahlt. Der vergleichsweise kleine Verlag finanzierte mir zwei Mal im Jahr eine Reise. Immer ging es im Frühjahr zu den Kollegen und Kritikern in Barcelona und nach Madrid, wo im Retiro-Park die bis heute lebendigste Buchmesse der Welt stattfindet: kaum Kollegen, aber viel Volk. In England ging es regelmäßig nach Cambridge, London, Oxford, manchmal auch in die abgelegeneren Regionen oder zur langweiligen Londoner Buchmesse, wo es nur Bücher und Buchmenschen gab – sonst nichts. Nach Paris, zum überhaupt nicht langweiligen salon du livre, kam Wagenbach immer selbst mit. Das ließ er sich nicht entgehen. Und Italien war seine zweite Heimat.

Wichtig war nicht, dass man bei der Rückkehr verkaufsträchtige Titel präsentieren konnte, sondern dass man Neues zu erzählen hatte: über den Buchmarkt, das politische und das akademische Klima, den Stierkampf und seine tiefere Bedeutung und die Küche – sogar wenn man in England gewesen war! Die Bücher kamen dann wie von selbst.

Lektoratssitzungen waren kein tagesordnungsskandierter Stress, sondern lange, manchmal sehr lange Diskussionen mit teils fantastischen, immer aber produktiven Abschweifungen, an die sich, wenn es spät wurde, die Fortsetzung im Restaurant anschloss. Die großartigen Verlagsprogramme, die Reihen „Salto“ und „Kleine Kulturwissenschaftliche Bibliothek“ sowie die Zeitschrift „Freibeuter“, Experimentierfeld für das, was später in die Bücher kam – all das ist auf diese Weise entstanden. Ich bin dieser Art von Verlagsprojekt erst wieder begegnet, als in meinem eigenen Verlag Maike Albaths Buch über den Turiner Einaudi-Verlag erschien. Dort verstand man seit dem Ende der 30er Jahre Verlagsarbeit in erster Linie als ständig mutierendes kulturpolitisches Projekt, ergänzt durch wirtschaftlichen Erfolg, nicht umgekehrt. Für Einaudis Bankier Matteoli war eine Bilanz etwas, das man wie ein Gedicht lesen sollte. Klaus Wagenbach hat dieses Modell nach Deutschland übertragen wie kein anderer. Man sollte ihn dafür in diesen idiotisch marktversessenen Zeiten nicht wie einen Dinosaurier bestaunen, sondern lieber kopieren – und weniger, aber bessere Bücher drucken.

Ein Letztes. Eine meiner Lieblingssentenzen, von denen dieser Mann so viele in die Welt gesetzt hat, lautet: „Das Buch ist untergegangen wie ein Stein.“ Dahinter verbirgt sich Anerkennung für ein besonders gutes Buch, das nicht so angekommen ist, wie man es sich gewünscht hätte. Mit Pessimismus hatte das nichts zu tun. Eher wurde damit ein interessanter Betriebsunfall kommentiert. Dem seit Jahrzehnten allgegenwärtigen Geraune über den Untergang der Buchkultur hat der Optimist Wagenbach immer entschieden widersprochen. Über den Witz, dem zufolge das zweite Buch, das vor über 500 Jahren Gutenbergs Druckerei verlassen habe, eines über den Niedergang des gedruckten Buchs war, dürfte er sein berühmtes Lachen immer noch hören lassen.

Der Autor leitet den Berenberg-Verlag in Berlin.

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