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Kultur: Verzockt

Sie waren halbseiden. Sie rochen nach Betrug. Aber sie waren auch Teil der Freizeitkultur. Heute sind Trabrennen nur noch Nostalgie

Bienenstich. Hier gibt es noch Bienenstich zum Filterkaffee. Heti, die eigentlich Hedwig heißt, bringt ihn, wie sie alles seit 30 Jahren im Casino an die Tische bringt. Über die Terrasse hinweg kann man über die ganze Anlage schauen – das weite Rund der Trabrennbahn Gelsenkirchen liegt unter einer Schneedecke. Eine Frau in Jägergrün führt ihren Hund über die Gegengrade. „Sonne Scheisse auch,“ sagt Heti und rückt die große Goldrandbrille zurecht. „Immer donnerstags.“ Eigentlich sollte grade eines von zehn Trabrennen stattfinden, sollte die Tribüne voll sein mit Zockern, die auf ihre Favoriten setzen. Nach den Unwettern im Winter nun wieder eine Laune der Natur: Matschiger Schnee und erneut ein Donnerstag ohne Rennen. „Tja“, Jochen Kupfer räuspert sich und verschmäht den Kuchen. Er hat sich mit dem Rücken zur Fensterfront gesetzt, vielleicht will er doch nicht hinschauen.

Man sieht Jochen Kupfer seine einundfünfzig Jahre nicht an, der vormalige Tennislehrer leitete irgendwann den gesamten Freizeitsportkomplex am alten Schalker Parkstadion. Nebenbei verdiente er gutes Geld mit der Organisation von Trödelmärkten. Und da er den Trödelmarkt an der Trabrennbahn nicht ohne die Bahn übernehmen konnte, kaufte er die Anlage gleich mit. Wie die Jungfrau zum Kinde also, sagt er und lehnt sich zurück. „Ich bin hier schon mit meinem Großvater gewesen, meine Kinder waren hier mit ihrem Großvater und außerdem bin ich Gelsenkirchner. Hätte ich das hier alles vor die Hunde gehen lassen sollen?“

Aber dort ist die Trabrennbahn schon. In Gelsenkirchen schreibt der Trabrennsport rote Zahlen – wie auch sonst im ganzen Bundesgebiet. Die Nachrichten aus dem Trabrennsport sind schlecht. Rennen werden wegen Startermangel abgesagt, Bahnen stehen vor dem Bankrott, Funktionäre streiten sich wie die Besenbinder. In Gelsenkirchen meldeten unterschiedliche Vereine nacheinander drei Insolvenzen an. Jochen Kupfer wusste, dass dem Gelsenkirchener Norden das Gleiche wie den Bahnen in Recklinghausen oder Mühlheim drohte: Der finale Vorhang für eine Wettkampfstätte, der rasche Tod eines Teils der Freizeitkultur. Ob es für Kupfer auch so wird? „Schwer zu sagen, muss nicht sein“, so richtig überzeugt klingt das nicht.

Jochen Kupfer kommt nicht aus dem Geflecht der Vereinslandschaft. Ihn interessiert das Geschäft, aber er ist auch Nostalgiker. „Wenn wir in Deutschland endlich weg vom Vereinsdenken zu einer zentralen Struktur kämen, ließe sich viel tun“, sagt er. Es hört sich an, als spräche Kupfer vom Schritt aus dem Mittelalter in die Moderne. Von der ist die Pferdesportszene einiges entfernt. Rennbahnen werden von Vereinen betrieben, Ehrenämter und freiwillige Arbeit prägen die Strukturen, gelegentlich auch anstelle vor Kompetenz und Weitsicht. Die Träger organisieren „bewettbare öffentliche Leistungsprüfungen für Pferde“, es darf sich offiziell nicht um gewinnorientierte Wettbewerbe mit privatwirtschaftlicher Organisation handeln. Das regelt schon das Rennwett- und Lotteriegesetz vom April 1922, mit dem der Staat „Rechtsgeschäfte besteuert, die Gewinne aus dem Spieltrieb des Volkes ziehen“, wie die juristische Erklärung lautet. Jochen Kupfer schwebt ein Verbund von Rennbahnen vor, die Rennen durchführen. Mit zentraler Organisation und zentraler Wettvermittlung, klaren Hierarchien, wirtschaftlichem Interesse und Antrieb. Und möglichst wenig Eitelkeiten, wie er nachschiebt.

Die Veränderungen, die dazu führten, dass der Trabrennsport am Abgrund steht, sind eine Mischung aus Globalisierung, Phlegma und Modernisierung. Das alles ging recht schnell vonstatten, außerdem auch an vielen Verantwortlichen und Organisatoren vorbei. „Es ging doch allen gut, die haben gar nicht gemerkt wie sie in die Pleite rutschten“, sagt Hannes Bongartz. Bongartz hat früher sein Geld als Fußballprofi verdient, Spargeltarzan nannten sie ihn da. Manch einer schreibt ihm die Erfindung des Übersteigers zu. Als Bongartz Anfang der 1970er Jahre von Wattenscheid 09 zu Schalke 04 wechselte, hörte er auch vom Trabrennen. Für wenig Geld kaufte er sich ein Pferd, „eigentlich mehr so zum Spaß“. Seitdem ist er dem Trabrennsport verfallen, vor zehn Jahren wurde er deutscher Amateurmeister.

„Als ich mein erstes Pferd kaufte, mussten wir uns um einen Stallplatz bewerben“, erzählt Bongartz. „Da standen hier zwölfhundert Böcke im Stall.“ Über tausende Zuschauer kamen zu den Rennen, es gab „Die Nacht des Pferdes“, für die Interessierte und Kenner aus halb Deutschland und den Niederlanden anreisten. Im Fernsehen wartete alles auf die Sportschau, moderiert auch von Experten wie Armin Basche und Addi Furler - „wer heute als Pferdeexperte zum Fernsehen kommt, wird doch ausgelacht“. Jetzt heißen Veranstaltungen Events, das Casino Aktiven-Center und der Trabrennsport steht vor dem Konkurs.

Der Sport hat längst aufgehört sich wirtschaftlich zu rechnen. Die Zuschauerzahlen an den Bahnen sind rückläufig, der zusammengerechnete Topf der Wetteinnahmen, auch Totalisator genannt, schrumpfte zum Ende der 1990er Jahre gewaltig. Deshalb lässt sich die Pferdezucht nicht mehr finanzieren, es gibt immer weniger gute Pferde, das Wetten wird langweiliger. In den Ställen an der Bahn finden sich grade noch 120 Pferde, auf Leerstand folgt Zerfall. Bongartz rechnet vor, dass er vor fünfzehn Jahren für einen Sieg rund 4000 Mark bekam, für den zweiten Platz gab es die Hälfte. Die Rundumversorgung des Pferdes mit Trainer kostete 20 Mark pro Tag und nebenan qualmten die sechs Schornsteine der Kokerei. Von dort kamen viele, um noch eine rasche Mark nach Hause zu tragen. „Zocken“, erzählt Bongartz, „Zocken ist doch auch immer ein Ausgleich gewesen. Wer tagsüber unter Tage schuften musste, konnte sich abends oder am Wochenende mit Glück und durch sein Wissen ein paar Mark dazuverdienen. Die waren dann richtig stolz, weil sie etwas wussten, weil sie schneller waren und mal Sonne abbekamen. Dann konnten sie noch einen ausgeben und gut wars.“ Heute stehen die Dinge anders. Ein erster Platz bringt noch 500 Euro, Pferd mit Trainer kosten im Schnitt 25 Euro pro Tag. Das aktuelle Gelsenkirchener „Pferd des Jahres“, verdiente mit elf Siegen bei zwölf Starts im vergangenen Jahr fünfeinhalb Tausend Euro.

Der Zusammenhang zwischen Montanindustrie und Trabrennsport ist Tradition. Pferde waren allgegenwärtig in der Arbeitswelt des Ruhrgebiets. Als Arbeitspferde, unter Tage, als Teil der kleinen Geschäftswelt. Ein Pferd zu besitzen hatte Prestige, bedeutete mit einem Auge auf die Münsterländer Gutsbesitzer, mit dem anderen zur Haute-volée nach Düsseldorf zu blicken. Pferde waren Alltag, Gelsenkirchen, die „Stadt der tausend Feuer“ war gleichzeitig auch die Stadt der tausend Pferde. Rennen waren Feierabend. Trabrennen der Sport des kleinen Mittelstandes. Zuerst liefen sonntags die Pferde der Metzger und Milchmänner, zum Wetten kamen die Kumpel. Franz Hendricks erinnert sich noch an die Anfänge. Und wenn Franz Hendricks sich erinnert, dann tut er das mit einem langen Strom von Namen, Geschichten und kleinen Begebenheiten. Die Geschichten von Franz Hendricks führen immer auf die Pferdebahn. Alles hängt mit Pferden, Wetten und Trabern zusammen. Er erzählt von Menschen, die „Zigarren-Heinz“ genannt wurden, oder von Fußballprofis, die hier um Hunderter Karten spielten. „Und wir daneben mit fünfzig Pfennigen“, lacht er. Hendricks stützt sich auf den Barhocker im Casino und streicht durch seinen kurzen Schnauzbart, einer Ruhrgebietsvariante nach Cary Grant. Wie die meisten kam er schon als kleiner Junge an die Bahn – über sechzig Jahre ist das mittlerweile her. Seine Eltern hatten einen Bauernhof mit eigenen Pferden. Irgendwann wurden aus den Pferden Traber und das Gehöft zu einem Teil der wuchernden Zeche Zollverein. „Zwangsenteignet“, sagt er und haut mit der flachen Hand auf die Theke.

Sein Leben verbrachte Hendricks zwischen der Kokerei Zollverein und der Trabrennbahn. Bei einem Fußballspiel war er nie – „auch wenn ich immer Freikarten gekriegt hätte“. Ob vielleicht Pferde den Menschen fremd geworden sind, wenn sie schon im Arbeitsleben nicht mehr so präsent sind? Hendricks muss nachdenken. „Da ist was dran, die sitzen doch heute alle nur noch in Büros!“ Für ihn unverständlich. Lange spannte er die eigenen Pferde vor, er deutet nach draußen auf die Kiesbahn. „Hundertmal bin ich da draußen vom Sulky gefallen, nie ist was passiert. Dann einmal zu Hause umgeknickt und fast querschnittsgelähmt.“ Franz Hendricks läuft nur stockend die Treppe aus dem Gastraum hinunter. Nein, den Arm dürfe man ihm nicht anbieten, „wenn ich das nicht mehr kann, brauche ich auch nicht mehr herzukommen“. Unten wartet in einem Kabuff eine Gehhilfe mit Rollen. „Mein Rennwagen heute“, sagt er und lacht nicht beim Hinausgehen.

Die Zuschauer sind alt geworden, bestätig Stefan Delbrügger. Bei ihm laufen viele Fäden zusammen – er ist der Geschäftsführer der Trabrennsport AG, die zentrale Institution für das Wettgeschäft. Damit beaufsichtigt er so etwas wie das Fieberthermometer des ganzen Sports, Trabrennen finanzieren sich fast ausschließlich durch Wetteinsätze. Und daran, so berichtet Delbrügger, hapert es. Bei vielen Zuschauern werden die Haare schon hell, die Gespräche ranken sich um Gebrechen. Aus Arbeitern sind Rentner geworden „und dass die Rente knapp ist, wissen wir alle“, sagt Delbrügger. Der Topf der Wetten ist in den vergangenen Jahren stetig kleiner geworden. Totalisator heißt er. Außerdem haben die Rennveranstalter in den 1990er Jahren sehr günstige Abmachungen für die Buchmacher geschlossen und aus lauter Übermut noch einen teuren Satellitenvertrag für die Bildübertragung nach außen geschlossen. Dabei vermitteln die Buchmacher kaum Wetten, die in den Totalisator gehen, sondern mittlerweile zumeist steuergünstig im Ausland. Insgesamt zahlen die Rennvereine also viel Geld für eine Einrichtung, die ihnen nichts bringt? „Nun ja, so kann man das vielleicht zusammenfassen“, sagt Dellbrügger.

Vor sich breitet er Zahlen aus, die den Niedergang des Trabrennsports sehr ungeschönt zeigen. Bahnen schließen, Wettumsätze in den Annahmestellen außerhalb der Bahnen, wie auch am Rennort selbst sinken dramatisch. Der Sport ist auf das Niveau von vor 1993 zurückgefallen. In Gelsenkirchen haben sie 2005 noch rund 10,4 Millionen eingenommen, im vergangenen Jahr war es weniger als die Hälfte. Bundesweit summierten sich 2005 die Wettumsätze auf knapp 65 Millionen Euro, ein Jahr später waren es kaum über 45 Millionen. Bei der Zahl der Renntage sieht es ganz ähnlich aus, nach einer Untersuchung gibt es bundesweit nur noch Pferde für 400 Renntage im Jahr. Vor vier Jahren fanden noch 700 statt.

Wer Stefan Delbrügger nach der Zukunft fragt, bekommt von dem Anfang Dreißigjährigen eine zumeist in englischer Sprache vorgetragene Dusche von Plänen und Vorstellungen. Er steigert sich hinein in die Möglichkeiten von neuen Produkten, die irgendwo zwischen „Internetbetting mit Chatroom-Diskussionen“, dem „early night Charakter“ und „echtem Retrocharme der Bahnen“ entstehen sollen. Delbrügger möchte den Kampf gegen das „erweiterte Freizeitprogramm“, das alle Interviewpartner wortgenau anführen, aufnehmen. Er möchte das Halbseidene, den Geruch von Schiebergeschäften, Hinterzimmern und Betrug, der stets dem Odium von Pferdestall, Tabak und Männerschweiß beigemischt war, bekämpfen. Damit will er Jüngere an die Bahn locken, das Sozialprestige der Pferdewette wieder aufpolieren. „Es kann doch nicht sein, dass man schief angeschaut wird, wenn man auf Pferde wettet, aber niemand ein Problem mit Fußballwetten hat.“ Außerdem müsse man sich mit den Veranstaltern der Galopprennen zusammensetzen – heikel, hier handelt es sich um bürgerliche Schichten, die in der Vergangenheit ganz gerne auf das Trabermilieu herabgeschaut haben. Nur wenn Galopp- und Trabrennsport zusammen organisiert wird und man gemeinsame Wettprodukte anbietet, ließe sich eine Zukunft organisieren, stellt Delbrügger fest. Wie denn die Gesprächskultur heute sei? Delbrügger zögert. „Es gibt keine. Wir haben keinen Kontakt.“

All das klingelt einem auf dem Weg zur Bahn noch in den Ohren. Das Wetter hat der Sonntagsveranstaltung keinen Strich durch die Rechnung gemacht, getrabt wird auch im strömenden Regen. Dementsprechend haben sich die Jockeys auf der Bahn in Pelerinen gezwängt. Die enorme Zuschauertribüne, Relikt aus den Zeiten des Wohlergehens, ist zweigeteilt: Im untere Stock Reihen mit Sitzschalen, wo ältere Männer auch mitgebrachtes Bier trinken. Am Eingang weist ein Schild auf das Kartenspielverbot während der Rennen hin, der Waschbeton ist in den alten Vereinsfarben grün, weiß und schwarz gehalten. Eine Etage höher sitzt man in einem langgestreckten Flur an Resopaltischen und blickt aus der weiten Fensterwand. Zwischen den Tischen wuseln Kellnerinnen in schwarzer Uniform und draußen rutscht Hannes Bongartz vom zweiten Platz im Schlussspurt noch auf den vierten.

„Ich komme schon seit vierzig Jahren hierhin,“ sagt eine ältere Frau, die mit ihrem Partner einen Tisch in der Nähe des Zielstrichs reserviert hat. Ein wenig Aufregung, ein kleiner Kitzel zum Sonntagskaffee, so könne man das zusammenfassen, sagt sie und erklärt den Wettschein. Mit wenig Geld spielen sie, er setzt immer nur einen Euro, „ich etwas mehr“. Wer ein wenig Ahnung hat, bekomme seinen Kaffee wieder heraus. An den Tischen kennt man sich, seit Jahren treffen die gleichen Zuschauer aufeinander. Rennen werden angesagt, Quoten errechnet, zweitausend Meter rechtsrum geht die Hatz. Die Sieger bekommen bunte Plaketten.

Auf der Pressetribüne sitzen lauter Männer. Berichterstatter, Organisatoren, der Rennsekretär. Die meisten mit stattlichem Bierbauch. Jahrzehntelanger Trabrennsport zu Schnitzel und Kaffee in Kännchen. Der Stadionsprecher trägt eine Krawatte, die zwischen lila, blau und grün schillert. Mittendrin prangt ein heller Pferdekopf. Was sie ohne Trabrennen machen würden? Niemand antwortet, sie schauen stumm aus dem Fenster.

Lennart Laberenz

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