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Die Schriftstellerin Nell Zink

© Fred Filkorn/Rowohlt

"Virginia" von Nell Zink: Theater der Grausamkeit

Ein schwul-lesbisches Ehepaar, viele Identitäten und Ethnien: Nell Zinks eigenwillig-wunderbarer und kunstvoller Roman „Virginia“.

Schon der Auftakt von Nell Zinks Roman „Virginia“ ist ein großer Wirbel. Der schwule Dichterlehrer Lee Fleming und seine lesbische Schülerin Peggy beginnen eine obsessive Beziehung und dürfen sich schon bald über Sohn Byrdie freuen, wundern und ärgern. Das ungleiche Paar heiratet zum eigenen Erstaunen und dem der Eltern, bekommt noch eine Tochter, obwohl der Sex seltener wird und der Gatte untreu ist. Weil der rücksichtslose Lee die vom Mutterdasein zermürbte Peggy aber sowohl mit Männern als auch mit Frauen betrügt, sinnt die Betrogene irgendwann doch auf Rache: Sie steuert den schicken Wagen des Betrügers in den malerischen See, an dem nicht nur das legendäre Stillwater College liegt, für das Lee arbeitet, sondern auch dessen prächtige Villa, steingewordenes Symbol seiner reichen aristokratischen Südstaatenfamilie. Der Schulwächter mag kaum glauben, was er sieht, und möchte wissen, ob es nicht doch ein Unfall gewesen sei. Aber Peggy verneint: „Das war Theater der Grausamkeit.“

Die Biografie der im US-Bundesstaat Virginia aufgewachsenen Schriftstellerin Nell Zink ist so abenteuerlich wie die Literatur, die sie schreibt. Es gibt auf ihrem Lebensweg die erstaunlichsten Abzweigungen, was den Beruf und die Berufung, aber auch was die Orte angeht, an denen Zink gelebt und gearbeitet hat: Philadelphia, Tel Aviv, Tübingen und jetzt die brandenburgische Kleinstadt Bad Belzig. Auch ihre Karriere als Schriftstellerin ist mehr als ungewöhnlich. Vor gerade mal fünf Jahren debütierte die 1964 geborene Autorin und promovierte Medienwissenschaftlerin mit „The Wallcreeper“ (dt. „Der Mauerläufer"). Allein wie das Manuskript der Spätberufenen entstand, nämlich durch eine Art Wette mit dem Schriftstellerkollegen Jonathan Franzen, wie der wilde Ehe-, Vogel- und Vögelroman dann die Herzen der Leserinnen und Leser eroberte, könnte schon wieder Stoff für einen neuen Roman sein.

Zink lebt in der brandenburgischen Kleinstadt Bad Belzig

Obwohl Nell Zink in Deutschland lebt und geschliffenes, an Klassikern geschultes Deutsch spricht, schreibt sie ihre Bücher auf Englisch. Sie erscheinen erst einmal in den Vereinigten Staaten und in Großbritannien, um mit etwas Verzögerung ins Deutsche übertragen zu werden. „Mislaid“ – so lautet der englische Originaltitel ihres aktuellen Romans, was wörtlich übersetzt so viel wie „verlegt“ im Sinne von „verschlampt“, in einer zweiten, sexuellen Bedeutung auch „flachgelegt“ heißt.

Bei Nell Zink weiß man nie so genau, wer wen flachgelegt hat. Tatsächlich scheint die Schriftstellerin nicht gerade wenig Vorurteile in diesem Roman auflösen zu wollen: Schwule lieben manchmal auch Frauen, Lesben stoßen zuweilen selbst eingebildete Männer nicht von der Bettkante. Reiche lassen sich auf Arme ein, aus Weißen werden Schwarze, und am Ende feiern alle eine gemeinsame Party, um schließlich wieder eigene Wege zu gehen.

Nell Zink ist keine Erzählerin, die ihre Figuren durch ein ausgeklügeltes Seelenleben motiviert. Die Handlungen der Protagonisten sind, gemessen an den Erkenntnissen der Psychologie, nahezu irre. Das Romangeschehen lebt von Schockmomenten, von der gewitzten Konstruktion, von überdrehten Behauptungen. Zinks Figuren können ihre sexuelle, kulturelle, klassenspezifische und auch ethnische Identität einfach mal ändern, und weil es im Roman möglich ist, provoziert die Lektüre einen irritierenden Blick auf ein Leben, das zumeist von allzu starren Zuschreibungen und Regeln geprägt ist. Vielleicht kann man Nell Zinks Prosa als schelmische Antwort auf die Arbeiten ihres Förderers und Freundes Jonathan Franzen lesen. Aber vielleicht wäre das auch schon viel zu viel spekulative Interpretation.

Das Roman-Ende hat etwas geradezu Operettenhaftes

Nachdem Peggy also Lees Wagen versenkt hat, bricht sie in ein neues Leben auf. Der Sohn bleibt beim Vater, die Tochter wird mitgenommen. Peggy schafft es, für sich und Mickey eine „schwarze“ Identität zu ergaunern, und so leben sie viele Jahre unerkannt in Virginia, gar nicht weit von Lee, der nach beiden sogar mit Hilfe eines Privatdetektivs vergeblich fahndet. Wie Nell Zink nun den Alltag der beiden Teilfamilien, ihre Erfolge und Niederlagen, abwechselnd in kürzeren und mal etwas längeren Textpassagen erzählt, beschleunigt das ohnehin hohe Tempo des Romans. Kurios dabei die Sprache, die zwischen „dirty talk“ und bildungsbeflissener Hochsprache changiert. Manchmal greift Nell Zink als Erzählerin auch direkt ins Geschehen ein, wenn sie ihre Heldin eine „jämmerliche Klugscheißerin“ nennt, „überschäumend vor Heftigkeit, vor aufopferungsvollen Muttergefühlen, gebeutelt von einer Leidenschaft, geliebt zu werden, die niemand außer Lee jemals gesehen hatte. Sie wusste, dass sie lächerlich war.“

„Virginia“ ist Nell Zinks zweiter Roman, der hierzulande nach ihrem dritten, deutlich umfangreicheren Prosawerk „Nikotin“ erschienen ist, das vom turbulenten Leben in einer Hippiekommune handelt. Was alle Romane verbindet: die Doppelbödigkeit des Erzählanlage. So liefert Zink immer die Parodie ihrer Inhalte und sprachlichen Form gleich mit. „Virginia“ liest sich durchaus wie ein Campusroman, der sich zu einem wahnwitzigen Familien- und Gesellschaftsdrama entwickelt. Zink aber macht sich über solche Genremerkmale lustig, zitiert wild allerlei Größen der Literaturgeschichte und schafft es dennoch, aus einem ziemlich unrealistischen Plot und literaturhistorischen Späßen geerdete Botschaften zu verbreiten. So wird „Virginia“ auch zu einer Lehrstunde für alle, die meinen, sie würden in anstrengenden Familienverhältnissen leben. Wer sich mit dem Leben von Lee und Peggy befasst, hält so gut wie alles für möglich und kaum noch etwas für besonders schlimm.

Selbst mit dem lustig-leichten Romanende, das geradezu etwas Operettenhaftes hat, überrascht Nell Zink. Erstaunlich bei diesem so merkwürdig wie vielschichtigen Roman: Alles fügt sich. So ist der amerikanischen Schriftstellerin nicht nur ein eigenwilliges, sondern nicht zuletzt auch in sich schlüssiges Kunstwerk gelungen. Carsten Otte

Nell Zink: Virginia. Roman. Aus dem Englischen von Michael Kellner. Rowohlt Verlag, Hamburg 2019. 320 Seiten, 22,70 €.

Carsten Otte

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