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Kultur: Von allen guten Eltern verlassen

Filmfestival Cannes: Auf der Croisette wird gefeiert, bei Ki-duk, Gus van Sant und Ulrich Seidl herrscht Düsternis

Wahrscheinlich ist Cannes der schizophrenste Platz der Welt. Elf Tage lang die feiernden Massen an der Croisette, elf Nächte lang die Überdosis an immer offenherzigeren Dekolletés in offen gefahrenen Zwölfzylinderboliden, deren Anblick nur der Abrauch des Jubiläumsfeuerwerks vom Sonntag zeitweise gnädig vernebelte – und in den Kinos das ganze Elend des Planeten. Schwer bedröhnt taumelt da selbst der sachlich-gründliche Kritiker bald vom einen Sinnenrausch in den nächsten.

Auf den Leinwänden geht es – passender Schizo-Kontrast zur Sechzigjahre- Sause – besonders düster zu: Demütigung, Selbstquälerei, Hoffnungslosigkeit allerorten, und dazu immer wieder arg simple Diagnosen, wie all dem Jammer zu entkommen wäre. Zum Beispiel der Koreaner Kim Ki-duk: In „Breath“ tröstet eine todunglückliche Ehefrau sich selbst und einen ihr gänzlich unbekannten, stumm bleibenden, zum Tode verurteilten und von Suizidversuch zu Suizidversuch taumelnden Mörder. Aber genügt dafür ein bisschen Singen, ein bisschen Sex? Was wie eine Variante auf sein Zauberwerk „Bin-jip“ (2004) gemeint sein mag, gerät zur mechanistisch-manierierten Lovestory. Oder Gus van Sant: Ein halbwüchsiger Skater (Gabe Nevins) verursacht in „Paranoid Park“ zufällig den Tod eines Wachmanns – aber reicht es, wie der Film es ausdrücklich empfiehlt, zur Entsorgung des Schuldgefühls die Umstände des Ereignisses aufzuschreiben und den Bericht anschließend zu verbrennen? Der meditative Blick auf die von allen guten Eltern verlassene Jugend erinnert an van Sants 2003 mit der Goldenen Palme ausgezeichneten „Elephant“ - und schließt doch bloß einen faulen Frieden, statt nachhaltig zu irritieren.

Die Regie-Helden sind müde, dafür stürzen sich die Jüngeren mit umso größerem Feuereifer ins irdische Foltertal. Dramaturgisch kurios parallel quälen Li Yang (China) und Jan Bonny (Köln) ihre Helden einen ganzen Film lang und holen sich kurz vorm Abspann für die kathartisch erfolgende Rache den Szenenapplaus eines aufgepeitschen Publikums. In „Blind Mountain“ wird eine Studentin (Lu Huang) mit der Aussicht auf einen Job ins entlegene chinesische Bergland verkauft und dort zwangsverheiratet, und nachdem alle Fluchtversuche und sogar die Rettung durch die Polizei misslungen sind, greift sie endlich selbst zum Hackebeilchen. „Gegenüber“, der in der Quinzaine-Nebenreihe präsentierte und sogleich von der französischen Presse gefeierte Erstling des 28-jährigen Bonny, variiert das Thema der ehelichen Gewalt: Ausgerechnet ein Polizist (Matthias Brandt), der auch noch befördert werden soll, wird seit Jahren von seiner Frau (Victoria Trauttmansdorff) geschlagen. Der Hochschul-Abschlussfilm setzt, anders als sein dramaturgischer Zwilling aus China, auf Psychologie statt auf bloße Soziologie – und gründelt mit fantastischen Schauspielern bedrängend tief in den Ambivalenzen einer verbrauchten Ehe.

Wer sich nicht wehrt, der lebt verkehrt: Schlicht ist das Credo, das diese Filme predigen. Aber immerhin: ein Konzept. Im Menschenzoo des Österreichers Ulrich Seidl dagegen geht es mit voranschreitender Trostlosigkeit zur Sache. Die ukrainische Krankenschwester Olga (Ekateryna Rak) verdingt sich in einem Wiener Sterbeheim als Putzfrau, während einer Wiener Kraftprotz (Paul Hofmann) und sein schmieriger Stiefvater (Michael Thomas) per Kleintransporter Spielautomaten in die Ukraine fahren. Eisgrau und verrottet, das belegt jede Szene mit eigener Penetranz, sind in „Import Export“ beide Welten. Dazu tut die Kamera alles, um hässlichen Menschen bei hässlichen Dingen zuzusehen, wobei sie zwischen Schauspielern und realem (Sterbe-)Menschenmaterial nicht weiter unterscheidet. Hauptsache: Thrill.

Gegen solches Zyniker-Kino helfen etwa die Bilder von Robert Thalheim, selbst wenn sie im Wettbewerb der Abscheulichkeiten scheinbar unterzugehen drohen. „Am Ende kommen Touristen“ heißt der neue, wiederum wie anstrengungslos gelungene Film des „Netto“-Regisseurs, und er erzählt, mit Alexander Fehling in der Hauptrolle, von nicht mehr als den autobiografisch inspirierten Erlebnissen eines ziemlich unidealistischen Zivis in Auschwitz: von einem abweisenden KZ-Zeitzeugen, den er betreuen muss, von den Lippenbekenntnissen der deutschen Landsleute und von einer beiläufig entstehenden und noch beiläufiger sich verlaufenden Liebe. Nichts drängt sich auf, nichts erdrückt, und schon öffnen sich Räume – in Erfahrung und Assoziation, in ein frohes Innehalten vor dem nächstbesten Lärmen von Cannes.

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