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ilienwerte. In ihrem Dokumentarfilm „Mother of Many Children“ von 1977 beschreibt Alanis Obomsawin die Rolle der Frauen in der indigenen Kultur.

© National Film Board of Canada

Alanis Obomsawin im Haus der Kulturen der Welt: „Von Kindern lernt man eine Menge“

In Kanada ist die indigene Filmemacherin Alanis Obomsawin als Aktivistin bekannt. Eine Ausstellung im Haus der Kulturen der Welt würdigt ihren Kampf um Anerkennung.

„Es gibt überall gute Menschen“, wiederholt Alanis Obomsawin, wenn man sie auf den langen Weg zu Anerkennung und Respekt anspricht, den kanadische First-Nation-Aktivist:innen wie sie seit Jahrzehnten führen. „Das will ich nie vergessen.“

Es ist wohl dieser unerschütterliche Glaube an das Gute im Menschen und an die Solidarität, der die Filmemacherin immer immer wieder inspiriert hat, mit ihren Mitteln – Dokumentarfilm, Musik, Handwerk, Aktivismus – für die Gleichstellung indigener Gemeinschaften in der weißen Mehrheitsgesellschaft zu streiten.

Sie wuchs in einem Reservat auf

Das Ergebnis dieser lebenslangen Arbeit ist jetzt im Haus der Kulturen der Welt in der Ausstellung „The Children Have to Hear Another Story“ zu sehen. Alanis Obomsawin, geboren 1932 im US-Bundesstaat New Hampshire, wuchs in Odanak, einem First-Nation-Reservat der frankokanadischen Provinz Québec auf.

Damals war es noch üblich, Kinder oft zwangsweise ihren Familien zu entziehen und in Internaten unterzubringen. Von den Konsequenzen dieser menschenverachtenden Politik war erst kürzlich auch hierzulande in den Medien zu lesen: Im vergangenen Jahr wurden Hunderte von Massengräbern auf dem Grund von kanadischen Heimen entdeckt, was in Kanada erneut eine öffentliche Auseinandersetzung mit der eigenen rassistischen Geschichte auslöste.

Der Missbrauch, die vertuschten Tode, das unendliche Leid der traumatisierten Communities ist dort immer wieder Thema, berichtet die Kuratorin Hila Peleg, die mit Richard W. Hill die Ausstellung im Rahmen des Projekts „Das neue Alphabet“ erarbeitet hat.

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Mehrere Jahre haben die beiden am Konzept für diese Werkschau gearbeitet, die die Besucher:innen von den ersten Fernsehauftritten Obomsawins im kanadischen Fernsehen durch die Dekaden und ihre verschiedenen filmischen, aber auch handwerklichen, bildungsaktivistischen und künstlerischen Arbeiten ins Jetzt führt.

Geschwungene Wände schaffen für jede Dekade einen offenen, doch in sich geschlossenen Raum und bieten Rückzugsorte, mit denen das HKW der Herausforderung, filmische Arbeiten im musealen Kontext zu präsentieren, begegnet. Darüber hinaus sind ihre längeren Filme während der Dauer der Ausstellung online zu sehen. Und auf der Empore in einer eigens geschaffenen Lesenische kann man Gesprächen mit der Künstlerin lauschen.

Zuhören zählt. Alanis Obomsawin.
Zuhören zählt. Alanis Obomsawin.

© Scott Stevens, National Film Board of Canada

Als Obomsawin ein Kind war, verließ ihre Familie das Reservat, womit ihr das Schicksal des Internatslebens erspart blieb. Als einzige indigene Schülerin ihrer größtenteils weißen Klasse wurde sie zur Zielscheibe von Rassismus und Ausgrenzung – eine Erfahrung, die ihr Schaffen prägen sollte.

Die kanadische Öffentlichkeit lernte Obomsawin Mitte der 1960er Jahre als Musikerin und Aktivistin kennen, die als Fürsprecherin für indigene Communities auftrat und durch einer Fundraising-Initiative die Mittel für ein Schwimmbad für die Kinder ihres Reservats gesammelt hatte.

Gebratenes Bärenfleisch

Ausschnitte aus den damaligen Fernsehsendungen zeigen ihre Überzeugung, aber auch, wie sich die junge Aktivistin mit grotesk respektlosen Moderatoren auseinandersetzen musste: 1964 versucht ihr der Moderator Alan Hamel am Ende einer Livesendung gebratenes Bärenfleisch, das Symbol der Abenaki Nation, der sie angehört, zu servieren. Obomsawin ist lebenslange Vegetarierin.

Doch so seltsam die ersten Schritte in der Öffentlichkeit für Alanis Obomsawin teilweise waren, sie fungierten auch als Türöffner in die Welt des Dokumentarfilms: „Jemand hat wegen der Schwimmbadkampagne einen Film über mich gemacht“, erzählt die fast Neunzigjährige im Gespräch über Zoom in ihrer Wohnung in Montreal. „Ich hatte keine Ahnung vom Filmemachen.

[Bis 24. April im HKW, Mo-So 12-20 Uhr, Dienstag geschlossen, das Filmprogramm steht online unter anotherstory.hkw.de]

Aber als mir das Studio im kanadischen Filminstitut gezeigt wurde, dachte ich mir: ‚Das ist es!‘“ Wenn sie so erzählt, kann man sich ihrem Charisma selbst über die große Entfernung nicht entziehen. Filme waren für Obomsawin eine Möglichkeit, in die Klassenräume zu kommen und ihre Leute die eigenen Geschichten erzählen zu lassen – statt, wie jahrhundertelang zuvor, wieder nur aus der Perspektive der Mehrheitsgesellschaft. „Unser Problem als Indigene war das Bildungssystem.

Die Bücher wurden von Fremden, von Siedlern geschrieben, die nach Kanada kamen und ihre Meinung und ihr Verständnis davon, wer wir waren, war absolut falsch und ungerecht. Wir wurden so dargestellt, dass man uns ja nur hassen konnte.“

Filme, das Werkzeug der Bildung

Die Filme wurden zum Werkzeug der Bildung – und der Selbstermächtigung. In einem ihrer bekanntesten Werke „Kanehsatake: 270 Years of Resistance“ von 1993 dokumentiert sie den Kampf einer indigenen Community, die sich gegen einen Golfplatz auf ihrem Land wehrt – und sich dafür Anfeindungen bis hin zu militärischen Eskalationen seitens der Regierung ausgesetzt sieht.

„Kanehsatake“ zeigt eindrucksvoll Obomsawins größte Stärke: das Zuhören. In langen Einstellungen lässt sie ihre Protagonist:innen reden, egal ob sie Vertreter der Regionalregierung sind, Protestierende oder – wie in vielen Arbeiten – Kinder interviewt.

Gast der kanadischen "Sesamstraße"

„Meine Art Filme zu machen, hat sich nie verändert: Ich möchte vor allem den Menschen zuhören“, erklärt sie. „Wenn man Kindern zuhört, lernt man eine ganze Menge.“ Kinder stehen bis heute im Mittelpunkt ihrer Arbeit, zuletzt in „Jordan River Anderson, the Messenger“, zudem war Obomsawin regelmäßig Gast in der kanadischen „Sesamstraße“. Sie legt auch bei ihrem geplanten Besuch in Berlin im April Wert darauf, mit Kindern ins Gespräch zu komen.

„Die Kinder müssen eine andere Geschichte erzählt bekommen“ ist mehr als nur der Titel der Ausstellung. Für Alanis Obomsawins Arbeit ist der Satz zentral. Seit über fünfzig Jahren sorgt sie dafür, diese anderen Geschichten, die eigenen, die der kanadischen First Nations – und ihrer Resilienz angesichts großer Widerstände – selbstermächtigt erzählt werden. Und dabei trotzdem, oder gerade deswegen, immer an das Gute in ihrem Gegenüber zu glauben.

Aida Baghernejad

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