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Kultur: Wahn und Scham

Es wird in Deutschland zu Recht über Möllemann gestritten. Nicht, weil Möllemann als Minipopulist so wichtig wäre.

Es wird in Deutschland zu Recht über Möllemann gestritten. Nicht, weil Möllemann als Minipopulist so wichtig wäre. Aber der FDP-Vize und auch sein Parteichef haben offenbar noch immer nicht begriffen, dass die Verknüpfung einer politisch legitimen Kritik an Michel Friedman mit einem rassistischen Ressentiment nicht einfach nur eine Frage der nunmehr als "Fehler" bezeichneten Wortwahl oder Taktik war. Die analoge Möllemann-Botschaft gegenüber einem anderen Parteipolitiker oder beispielsweise gegenüber einem katholischen Bischof hätte bedeutet: Der ist, wenn er so redet, selber schuld, wenn man ihn nicht mehr wählt oder wenn Leute aus der Kirche austreten. Wirft Möllemann jedoch einem jüdischen Glaubensvertreter vor, er schüre die Aversionen gegen die von ihm vertretene "Zielgruppe", dann heißt das im Klartext: Du darfst dich nicht wundern, wenn man dich ausstoßen, ausrotten will.

Das macht den kategorialen Unterschied, den Möllemann und Westerwelle offenbar nicht verstehen (wollen) - mit dem Hinweis, sie seien doch keine Antisemiten. Das zu sein, darf und muss man ihnen auch nicht unterstellen. Antisemitismus ist ein in letzter Konsequenz mörderischer Irrsinn, ein, wie jeder Rassismus, aberwitziges Zerrbild vom Menschen, neben allen Sündenbockfantasien meist auch ein Verfolgungswahn. Und weil die Verfolger nur in der Einbildung des Wahnsinnigen existieren, bedarf der Antisemitismus - darauf hat Adorno ebenso wie amerikanische Sozialpsychologen früh aufmerksam gemacht - oft nicht einmal des Juden. Auch fremdenfeindlich sind meist die, die kaum Ausländer kennen.

Weil alle, die nicht als wahnsinnig oder völlig dumpfsinnig gelten wollen, nun auch in der jüngsten Diskussion beteuern, dass sie ganz gewiss keine Antisemiten seien, könnte man zum sarkastischen Paradox kommen: Erst hatten die Deutschen keine Juden mehr, jetzt haben sie einen Antisemitismus ohne Antisemiten.

Natürlich gibt es in Deutschland ein rechtes, auch zu Faschismen und Rassismen tendierendes Stimmungsreservoire. Wie in ganz Europa und übrigens auch in den USA. Aber als Folge der Geschichte, als Lehre auch der reeducation nach 1945 gab es zumindest in der alten Bundesrepublik die denkbar höchste Aufmerksamkeit und Abwehr gegenüber Nationalismen und Rassismen. Nach der Wende, nach dem Aufkommen ausländerfeindlicher und auch antijüdischer Ausschreitungen im wiedervereinigten Deutschland war es mit dem Biotop der weltoffenen liberalen Aufgeklärtheit, als das die Bundesrepublik grosso modo galt, plötzlich vorbei. Und der Zentralrat der Juden hat mit als erster warnend seine Stimme erhoben. Oft ungehört. Erst als Synagogen oder jüdische Friedhöfe geschändet wurden, funktionierten wieder die alten Reflexe der politisch-moralischen Scham und Empörung. Aber das Reaktionsvermögen ist seitdem gestört: Es schwankt zwischen Beschwichtigung und Überreaktion.

Das gilt auch in der jüngsten Debatte. Möllemann ist ein Karrierist und Lobbyist. Man muss ihn kritisieren, wenn er leichtfertig antisemitische Stereotypen benutzt. Doch der Vorwurf des Antisemitismus - neben dem der Päderastie der schlimmstmögliche in dieser Gesellschaft - darf nicht inflationär werden. Antisemitismus ist zu mörderisch, zu wahnsinnig, um von der "Moralkeule" zum Taktikstöckchen der Tagespolemik zu werden. Darum kann auch Martin Walser einen geschmack- und kunstlosen Roman geschrieben haben, der (missglückt) von einem jüdischen Kritiker erzählt. Dafür muss man ihn kritisieren. Aber Walsers Werk bleibt doch Gegenstand der Literaturkritik. Nicht der Gesinnungspolizei.

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