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Der britische Schriftsteller Graham Swift, 70

© imago/Leemage

Graham Swifts neuer Roman "Da sind wir": Wankende Böden

Es ist bloß eine Illusion: Der britische Schriftsteller Graham Swift widmet sich in seinem neuen, wundervollen Roman „Da sind wir“ der Magie.

Als Graham Swift in den 1950er Jahren in London aufwuchs, war die Vorstellung, Ferien zu machen, ungewöhnlich, ja, unvorstellbar. Der Welt war gerade ein katastrophaler Krieg vorausgegangen. Es war „eine Zeit, in der die alte Welt noch Bestand hatte, während die neue sich entfaltete“, hat Swift in einem Interview gesagt. Sie drehte sich von rechts auf links, politisch, sozial, ein traumatischer Umbruch.

Deshalb suchten die Menschen wenigstens etwas Zerstreuung in den Strandbädern, im Varieté in den Theatersälen auf dem Pier.

„Wie geschehen die Dinge? Wie fangen sie an? Aber auch: Wie ist es möglich, dass etwas, das entsteht, wieder verschwindet?“, fragt der 1949 geborene britische Schriftsteller.

Nach seinem letzten, wundervoll elegischen Roman „Ein Festtag“ wollte der Booker-Preisträger mit dem Schreiben eigentlich aufhören. Doch nun ist Swifts neuer, elfter Roman „Da sind wir“ (Aus dem Englischen von Susanne Höbel. dtv, München 2020. 160 S., 20 €.) erschienen, den er in die Zeit seiner Kindheit platziert hat, in einem eben jener englischen Strandbäder. Und darin widmet er sich einer ganz besonderen Kunstform: der Magie.

Es ist 1959. Jack Robbins, Ronnie Deane und Evie With treten während der Sommersaison allabendlich mit ihrer Show im glamourösen Seebad Brighton auf, auf dem Brighton Pier; Jack als Conférencier und Ronnie als Zauberer, mit Evie, seiner schönbeinigen Assistentin.

Dieser Sommer umspannt ein halbes Jahrhundert

Für ein paar Stunden dürfen sich die Zuschauer blenden und berauschen lassen, vom Scheinwerferlicht, von den Nummern, vom Spiel mit der Illusion, von den Wellen und vom Beifall als dröhnendem Hypnotikum.

Es ist eine Art Flucht in einen unwirklichen Raum, der für einen Moment alle Einsamkeit, alle Nöte und Sorgen bannt – vor, auf und hinter der Bühne. Ronnie und Evie werden ein Paar, wollen heiraten und steigen gemeinsam zur Sensation der Show auf, für deren Schlussnummer sich Jack regelmäßig in die hinteren Reihen des Zuschauersaals schleicht, wo er Evies Zauber ungesehen aus der Ferne erliegt, denn insgeheim träumt auch er von einem Leben mit ihr.

Um diesen Sommer baut Swift seine Erzählung, ein Sommer, der sich in die Unendlichkeit dehnt und am Ende ein halbes Jahrhundert umspannt, auch wenn er dafür nur schlanke 160 Seiten braucht, so dicht sind seine Sätze. Der Roman schwebt in einem fort, mit sich ständig ablösenden Vor- und Rückgriffen.

Mal beobachten wir den kleinen Ronnie, der zu Beginn des Zweiten Weltkriegs aus London evakuiert wird und bis Kriegsende bei einem kinderlosen Ehepaar im ländlichen Oxfordshire lebt: eine verträumte, „zauberhafte“ Mary-Poppins-Idylle. Ziehvater Eric führt Ronnie am Frühbeet in die Zauberkunst ein, Ziehmutter Penny reicht Ingwerbier, mit einem behelfsmäßigen „Da wären wir!“ – und ringsherum fallen die Bomben. Dann wieder sehen wir Evie im Jahr 2009, nun 75 Jahre alt, in ihrem leeren Haus am Albany Square.

Ihr Mann, Jack, mit dem sie 50 Jahre lang verheiratet war, ist gestorben, und in zärtlichen durchscheinenden Gedankenbildern erinnert sie sich an ihre gemeinsame Zeit; auch an die mit Ronnie, der nach jenem Sommer für immer spurlos verschwand, wie der Ring an Evies Finger oder die vielen Tauben, Papageien und Kaninchen, die er damals vor den Augen des Publikums selbst trickreich verschwinden ließ.

Und natürlich Jack, der mit Lampenfieber in der Seitenkulisse steht und auf einen Stups wartet, den er sich letztlich selber geben muss: „Er trat über den Rand, aber er war noch da. Stürzte nicht in den Abgrund. Hier war das Bad der Bühnenscheinwerfer, und dann, nur für diesen Schritt, für den Moment des Heraustretens, so schien es, brandete das Meer des Beifalls. Und hier, flinken Fußes – ‚Da bin ich! Da bin ich!‘“

Die Küste ist hier ein motivischer Nebendarsteller

Dem Roman vorangestellt ist eine Zeile aus Joni Mitchells melancholiedurchtränkter Hymne „Both Sides Now“ von 1966: „It's life’s illusions I recall“.

Und so folgen Swifts Illusionen keinen magischen Gesetzen. Es sind die Illusionen des Lebens, die er vor uns ausbreitet, die vielen Rollen, die wir darin spielen, die unbemerkten Schwindel und (Ent-)Täuschungen, echte Tränen, Theatertränen, und der ganze unerklärliche Hokuspokus dazwischen. Diese Illusionen kommen und gehen, wie die Wellen unterm Pier.

Sie glänzen für einen Moment verführerisch, wie ein Spinnennetz in Evies Garten, das nur der silbrige Tau sichtbar macht, bevor es wieder „in der schattenhaften Luft verschwindet“. Evie heißt in den Shows „Eve“, und kurz denkt man an den Garten Eden.

Swift unterstreicht diesen permanenten Wirklichkeitsbetrug meisterhaft durch seine gewohnt nicht lineare, assoziative, teilweise unzuverlässige Erzählweise: „Hat sie die Fotos geküsst? Hat sie ihr Gesicht in die Jacketts und Mäntel vergraben, und sogar –?“. Ganz sanft entlockt Graham Swift den Geschichten von Jack, Ronnie und Evie ihre Geheimnisse, ohne sie am Ende vollends preiszugeben.

Swifts Band „Einen Elefanten basteln“ enthält einen Essay mit dem Titel „I Do Like to Be Beside the Seaside“, der auf einen alten Song aus den englischen Music Halls Bezug nimmt. In „Da sind wir“ wird die Küste zum motivischen Nebendarsteller und der Pier als Schnittstelle zwischen Land und Wasser zur Chiffre alles Schwankenden: ein wankender Boden, der auch den Seelenlandschaften der Figuren zugrunde liegt, mit dem Vergnügen an der Oberfläche und der Verunsicherung, die sich darunter verbirgt. Für Jack, Ronnie und Evie gibt es in ihrer Show auf dem Pier nur eine Regel: „Gib ihnen, was sie wollen.“ Das Schöne an Graham Swifts Büchern ist, dass er einem gibt, was man will, ohne dass man wusste, das man es wollte. Wie er dieses zauberhafte Kunststück anstellt? Es bleibt sein Geheimnis. Was für ein Magier.

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