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Fahrgäste in einer Warteschlange auf dem Hauptbahnhof in Berlin.

© Gregor Fischer/dpa

Kolumne: Ein Stück vom Leben: Warten ist der beste Lehrer

Für viele Menschen ist das Warten eine Zumutung. Dabei ist es in unserer schnelllebigen Zeit eine der wenigen Chancen, um uns selbst zu begegnen. Ein Kommentar

Ein Kommentar von Hannes Soltau

Genau 156 Stunden am Computer. 38 Stunden im Stau. Zwölf Stunden in der Supermarktschlange. So viel warten Deutsche durchschnittlich im Jahr. Verschenkte Lebenszeit? Offensichtlich eine weitverbreitete Meinung. Geduld ist längst keine Tugend mehr. Die meisten Wartebereiche am Bahnhof sind Fast-Food-Ketten gewichen. Das Ostergeschäft schließt nahtlos an das Weihnachtsgeschäft an. Und Tinder verspricht das schnelle sexuelle Abenteuer.

Kein Wunder. Warten bedeutet eine Zwangspause. Sich selbst auszuhalten, mit allem, was an Gefühlen und Gedanken aufsteigt. Da fällt es doch leichter, die nutzlos verstreichende Zeit als Faulheit zu brandmarken. Wie verhasst uns die ungenutzten Stunden sind, kommt in der traurigen Formulierung des „Zeittotschlagens“ zum Ausdruck. Zeit ist Geld. Warten ist Verlust. Dabei sind es doch gerade Wartezeiten, die einen der letzten Schlupfwinkel darstellen, um aus dem rastlosen Betrieb der uns umgebenden Lebenswelt auszubrechen.

Warten als Herrschaftsmittel

Vielleicht hat sich die aufgeklärte Gesellschaft so vehement dem Kampf gegen die vermeintlich nutzlos verstreichende Zeit verschrieben, weil das Warten seit jeher als gesellschaftliches Machtinstrument eingesetzt wird. Früher wartete man im Vorzimmer der Regenten oder auf das Jüngste Gericht. Heute wartet man auf den Monatslohn oder im Vorzimmer der Ämter auf eine Aufenthaltsgenehmigung – oder wie aktuell auf die Regierungsbildung. Warten wird offenbar immer noch mit Ohnmacht verbunden. Darum gilt es in unserer Gesellschaft immer noch als Privileg, nicht warten zu müssen: Als Privatversicherter kann ich heute direkt ins Behandlungszimmer gehen oder mit einem VIP-Ticket die Schlange vor einer Veranstaltung umgehen.

Wer sich diesen Luxus nicht leisten kann, nimmt zumindest den Coffee to go mit ins Auto oder verliert sich im Puzzlespiel auf dem Handy, statt morgens in der U-Bahn einfach mal durchzuatmen. Das Prinzip der leeren Geschäftigkeit scheint sich auch dort durchgesetzt zu haben, wo der Mensch eigentlich zur Ruhe kommen könnte und Zeit hätte, bei sich zu sein. Vielleicht stranden wir eines Tages mit leerem Akku an einer Bushaltestelle und merken: Der bedrohlichen Leere können wir auch ohne den reflexhaften Blick auf das Smartphone standhalten. Mit einem Blick auf uns. Dann ist das Warten nicht mehr Feind, sondern unser bester Lehrer.

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