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Diktat am Morgen. Voltaire und sein Sekretär Collini. Gemälde von Jean Huber (1721-1786).

© Wikimedia

„Warum Voltaire?“: Schöpfer, Spötter, Spieler

Volker Reinhardt entdeckt den französischen Aufklärer in seiner umfangreichen Biografie als Zeitgenossen.

Fanpost vom zukünftigen Preußenkönig, diese Überraschung erwartete Voltaire im Spätsommer 1736: „Das alles läßt mich glühend wünschen, alle Ihre Werke zu besitzen.“ Die Einladung nach Potsdam ließ nicht lange auf sich warten. Vorab schickte der Kronprinz schon einmal Boten zu Voltaire ins französische Cirey. Dorthin hatte der Philosoph und Dichter sich zurückgezogen, als in Paris mal wieder der Aufenthalt in der Bastille drohte. Auf dem Schloss in der Champagne lebte und arbeitete er mit der Mathematikerin und Philosophin Émilie du Châtelet.

Manuskripte zu ergattern, das war der Auftrag des preußischen Kuriers: Doch der Aufklärer war gut beraten – Émilie du Châtalet war auch eine hoch erfahrene Aristokratin. Die preußische Ausbeute an Ungedrucktem blieb mager. Dafür stürzten sich die ungleichen Briefpartner, der französische Aufklärer und der preußische Thronanwärter, bald in ein gemeinsames publizistisches Abenteuer, das für beide Seiten ernüchternd enden würde: Der „Anti-Machiavel“, eine Art aufklärerisches Regierungsprogramm, anonym und auf Französisch gedruckt, erschien 1740.

Im gleichen Jahr wurde Friedrich II. König von Preußen, Voltaire reiste nach Potsdam, Friedrich II. überfiel und besetzte Schlesien, Voltaire reiste wieder ab. 1743 kam er erneut, diesmal in diplomatischer Mission. Sie scheiterte genauso wie die dilettantische Intrige Friedrichs II., die Voltaire in Potsdam halten sollte: schlecht gefälschter Spott auf den französischen Herrscher - im Namen Voltaires. Erst nach dem Tod Émilie du Châtelets 1750 kam Voltaire wieder, diesmal blieb er für mehr als zwei Jahre - und reiste im Streit wieder ab.

Nah am Werk

„Warum Voltaire?“, fragt nun die Biografie des Freiburger Frühneuzeitforschers Volker Reinhardt: Sie hat sich zum Ziel gesetzt, den historischen Voltaire „für die Gegenwart zurückzugewinnen“ – kein Denkmal in Buchform, keine Büste aus Papier, sondern ein Porträt des Aufklärers in seiner Zeit. Reinhardt erzählt die „Abenteuer der Freiheit“ auf monumentalen 600 Seiten – und bleibt dabei nah am Voltaire’schen Werk. Die Auseinandersetzung mit der Forschung suchen die Leser dagegen im Text vergebens.

[Volker Reinhardt: Voltaire. Die Abenteuer der Freiheit. Verlag C.H. Beck, München 2022. 637 Seiten, 32 €.]

Dabei hat es Voltaire seinen Biografen nicht leicht gemacht: War er doch nicht allein, wie Reinhardt weiß, ein energischer Kämpfer für religiöse Toleranz, ein pathetischer Schöpfer hoher Tragödien, ein moralischer Historiker und ein spöttischer Prosaist, sondern auch ein Spieler - im Ökonomischen wie in der Selbstdarstellung: Voltaire erschrieb sich viele Masken. Bis heute tun sich Literaturwissenschaftler und Historiker schwer, die autobiografische Legende von der verlässlichen Darstellung abzusetzen.

Auf die Welt kam François-Marie Arouet Ende des 17. Jahrhunderts, zum Schriftsteller taufte er sich zu Anfang des 18. Jahrhunderts selbst: 1718, als er nach fast 11 Monaten aus der Bastille entlassen wurde, gab er sich den Namen, unter dem er bekannt werden sollte: Voltaire! Voltaire war ein Ereignis: Der Dichterphilosoph war der französische Intellektuelle lange vor Émile Zola, der Dreyfus-Affäre und der Erfindung der Rolle des unbestechlichen, couragierten Publizisten. Der „deutsche Voltaire“ – das wollten sie alle eine Zeit lang sein: Lessing, Wieland, Goethe. Die Reihe ließe sich fortsetzen.

Staunendes Nicht-Wissen

Reinhardt mobilisiert Voltaire, der einem Jahrhundert seinen Stempel und seinen Namen aufprägte, weil die Gegenwart ihn gut brauchen könne: seine „schonungslose Analyse“, „sein staunendes Nicht-Wissen“, seine „humane Skepsis“, sein mutiges Eingreifen. Was die Dreyfus-Affäre für Zola, war der Fall Calas für Voltaire: ein Justizskandal, an dem sich die mörderischen Folgen religiöser Intoleranz zeigten.

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Das Gerücht vom protestantischen Vater, der seinen Sohn tötete, damit er nicht zum Katholiken werden konnte, machte schnell die Runde. Voltaire intervenierte politisch und publizistisch. In der Folge entstand sein Essay „Über Toleranz“, der nach dem Anschlag auf die Satirezeitschrift „Charlie Hebdo“ plötzlich wieder auf den Bestsellerlisten stand. „Voltaire“ konnte man 2020 auch auf französischen Transparenten lesen, als Demonstranten Wut und Schock über die Ermordung des Lehrers Samuel Paty zum Ausdruck brachten.

Voltaire und die Toleranz, das ist fast wie der weiße Schimmel, ein Pleonasmus. Kürzer kommt bei Reinhardt die Dialektik der Aufklärung, wie sie etwa der Philosoph Kwame Anthony Appiah erörterte: Das betrifft nicht nur rassistische oder antisemitische Äußerungen, sondern auch Voltaires Spielernatur, seinen Hang zu Übertreibungen und Legenden, selbst im Fall Calas.

Volker Reinhardt spekuliert in Interviews über den Voltaire der Gegenwart: Für die Impfung, gegen „Cancel Culture“? Jedenfalls auf Twitter, nicht auf TikTok!

Hendrikje Schauer

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