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Was machen wir heute?: Sprachübungen

Wie ein Westberliner die Stadt erleben kann.

Sie ist eine grazile junge Frau, redet nicht viel und spürt, was ich will, beim Friseur in Zehlendorf-Mitte. Ich bin froh, dass es sie gibt. Leider fragt sie beim letzten Besuch ganz plötzlich und unerwartet mit ihrer sanften Stimme, die nun fast zackig klingt: „Kurz genug, jetze?“ Jetze! Unter Kamm und Schere sträuben sich mir die Haare. Ich nicke erstarrt. Während sie sich ein wenig am Hals zu schaffen macht, komme ich ins Grübeln und denke über die Einheit nach, die gerade in aller Munde ist und die mich noch immer rührt.

Ich kriege feuchte Augen, wenn ich nur die Filmaufnahmen und Fotos von damals sehe. Wie viele tausend West-Berliner stand ich an der Grenze, die sich öffnete, unvergessen die Eindrücke von der Oberbaum- oder der Glienicker Brücke. Noch heute sehe ich im Geist und mit gruseligem Schauer hier und da die Mauer stehen, etwa, wenn ich in die Straße nach Steinstücken fahre. Jede neue Straßenöffnung war ein Volksfest. Die Frau an meinen Haaren hat davon wohl kaum keine Ahnung, sie mag damals vier, fünf Jahre alt gewesen sein. Sie erzählt mir beim Abbürsten, dass sie aus der Gegend stammt, in der Angela Merkel aufgewachsen ist. Dass es dort keine Arbeit gab und dass sie, die Friseurin, jetzte in Zehlendorf wohnt und sich an Berlin gewöhnt hat. Berlin! Sie teilt die Stadt natürlich nicht in West und Ost. Gäbe es die Einheit nicht, denke ich, fehlte mir viel Lebensqualität in der Stadt – und eine gute Friseurin. An ihr DDR- „Jetze“ aber kann ich mich nicht gewöhnen! Ich hatte gehofft, 20 Jahre Einheit könnten es tilgen. Ich habe das verhasste Wort nun im Stillen geübt, mir zigmal vorgesprochen: Es spricht sich leicht und flüssig, aber herausrutschen wird es mir nie! Da ist zumindest noch immer eine Mauer vor. Ob Angela Merkel, wenn sie und ihr Mann mal unter sich sind, ein „Jetze“ herausrutscht? Christian van Lessen

Foto-Erinnerungen von Manfred Neumann an die Maueröffnung vor allem im Südwesten Berlins, auch an der Glienicker Brücke, sind in einer kleinen Ausstellung im Rathaus Lichterfelde zu sehen, Goethestraße 9–11, Parterre-Galerie. Werktags 9 bis 21 Uhr. Noch bis August 2010.

Christian van Lessen

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