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Kultur: Was vor Beslan geschah

Ein Dokumentarfilm zum Tschetschenien-Konflikt

Eine ruhige Straße in einer amerikanischer Kleinstadt. Einfamilienhäuser mit ordentlich angelegten Vorgärten. Eine junge Frau ist auf dem Weg zur Arbeit, sie verabschiedet sich von ihrem Mann, setzt ihren kleinen Sohn ins Auto und fährt los. Während ein Lkw an einer Kreuzung vorüberrattert, erscheint plötzlich – nur für Sekunden – das Bild eines in sich zusammenstürzenden Hochhauses.

So beginnt der russische Dokumentarfilm „Disbelief“ (Misstrauen) von Andrei Nekrasov, der am Mittwochabend in der Akademie der Künste in Berlin und in sieben weiteren Ländern der Welt zum ersten Mal öffentlich gezeigt wurde. Ein etwas ungewöhnlicher Einstieg für einen Film, der eigentlich von den Bombenanschlägen auf Moskauer Wohnhäuser im September 1999 berichtet, bei denen fast 300 Menschen ums Leben kamen.

Die Frau heißt Tanja, ist in Moskau aufgewachsen und lebt seit einigen Jahren in den USA. Ihre Mutter starb bei dem Attentat, ihre jüngere Schwester Aljona überlebte nur knapp. Was damals geschah und warum, können beide nicht begreifen. Auf der Suche nach den Schuldigen kehrt Tanja nach Moskau zurück, Nekrasov begleitet sie mit der Kamera. Dass tschetschenische Terroristen verantwortlich für die grausamen Anschläge sind, wie die offizielle Version der russischen Regierung damals wie heute lautet, wird im Laufe des Films immer unglaubwürdiger. War es ein vom Inlandsgeheimdienst FSB inszenierter Anschlag, der der Regierung als Rechtfertigung für den zweiten Tschetschenien-Krieg diente?

Antworten gibt der Film nicht, er bestärkt vielmehr das Misstrauen gegenüber einer Regierung, die alles zu vertuschen versucht und Leute verhaften lässt, die wie Tanjas Rechtsanwalt und Ex-Geheimdienstbeamter Trepaschkin zu viele unbequeme Fragen stellen. Am Ende kehrt Tanja zurück in ihr Exil, das Einfamilienhaus in der amerikanischen Kleinstadt.

Ihre Nachforschung hat nichts aufgeklärt, im Gegenteil: Vieles ist undurchsichtiger geworden. So erhärtet der Film auf überzeugende Weise die These von einer Mitverantwortlichkeit des Kreml an den Anschlägen, die schon länger in journalistischen und diplomatischen Kreisen diskutiert wird. Vielleicht leistet Nekrasovs Film einen Beitrag dazu, dass die Vorgeschichte des aktuellen Tschetschenien-Konflikts in der Debatte um den Terroranschlag von Beslan berücksichtigt wird. In Russland wird er wohl kaum zu sehen sein. Wer über Schuldzuweisungen nachdenkt, wird den Blick von Tschetschenien auch nach Moskau richten müssen.

Katharina Wagner

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