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Kultur: Weltbürger

Dem Historiker Saul Friedländer zum 80.

Von Caroline Fetscher

Heute vor 80 Jahren, am 11. Oktober 1932, feierte die Familie Friedländer in Prag die Geburt ihres Sohnes Pavel. Was sich der Vater, Vizepräsident einer deutschen Versicherung, für seinen Sohn erhoffte, was die Mutter, Tochter eines Fabrikanten, sich für das Leben ihres Sohnes wünschte, war himmelweit von allem entfernt, was die nahe Zukunft brachte.

Im März 1939 hatten sich die Hoffnungen der jüdischen Familie auf das Überleben reduziert, sie flüchteten mit ihrem Kind vor den Deutschen nach Paris. Dort kam im Sommer 1940 die Vichy-Regierung an die Macht, die Familie floh weiter. Um das Kind zu retten, ließen die Eltern Pavel taufen, und versteckten ihn unter dem Namen Paul-Henri im Internat in Montluçon in der Auvergne. Zwei Wochen vor dem zehnten Geburtstag ihres Sohnes, am 28. September 1942, wurden die Eltern an der Grenze zur Schweiz von eidgenössischen Beamten aufgegriffen, den Vichy-Behörden ausgeliefert und nach Auschwitz deportiert. Wie der Sohn als Erwachsener herausfand, hätte die Schweiz sie aufgenommen, wenn sie die Begleiter eines Kindes gewesen wären. Aus seinem Überleben und ihrer Ermordung wurde für den Sohn ein Auftrag, den er mit Beharrlichkeit, enormem wissenschaftlichem Mut und unvergleichlicher Empathie annahm. Man könne, schrieb er einmal, den „Bann des Grauens“ lösen, „wenn man ihm erinnernd standhält“.

Saul Friedländer hat das ein Leben lang versucht. Aus dem Prager Kind Pavel, dem katholischen Paul-Henri, der als Jugendlicher eine Zeit lang Geistlicher werden wollte, wurde 1948 in Israel Saul Friedländer. Mit seinen drei heute erwachsenen Kindern spricht der Historiker, Schoah-Forscher, langjährige Professor an der Hebrew University in Jerusalem und der University of California in Los Angeles Hebräisch, auch in Kalifornien.

Schon während des Studiums in Paris und Tel Aviv, während der Promotion und ersten Professur in Genf wurde der Zivilisationsbruch des Nationalsozialismus in Deutschland und Europa Friedländers zentrales Thema. Sein historisches wie psychoanalytisch beeinflusstes Erkenntnisinteresse verbindet den ethischen Auftrag der Zeitgeschichte, die Opfer zu hören, mit dem analytischen Auftrag, die Motive der Täter und Mitläufer zu befragen. So erhalten Briefe und Tagebücher Verfolgter den gleichen Rang als historisches Quellenmaterial wie Protokolle, Berichte oder Statistiken. Neutrale Objektivität, ein vom Mitempfinden abgekoppeltes Forschen, das lehrt Friedländers Werk, darf es angesichts der NS-Geschichte nicht geben.

Neben Friedländers preisgekröntem, zweibändigem Hauptwerk „Das Dritte Reich und die Juden“ (1998/ 2006) steht eine Vielzahl verwandter Studien. Ihn interessierte die Rolle von Papst Pius XII. im Holocaust (1964), in „Kitsch und Tod“ (1988) untersuchte er die Ästhetik der Rezeption des Nationalsozialismus, und seine Kindheit verarbeitete er 1977 in dem autobiografischen Text „Wenn die Erinnerung kommt…“. Der Träger des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels von 2007 arbeitet, denkt, diskutiert bis heute. In einem jüngeren Gespräch am ersten Fluchtort seiner Kindheit, Néris-lesBains, sagte er in seinem schönen, tschechisch-deutsch-französisch geprägten Englisch: „Zuhause fühle ich mich nirgends.“ Möge die Welt ihren Weltbürger, der heute seinen 80. feiert, noch viele Jahre behalten. Caroline Fetscher

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