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Kultur: Weltstadtwelten

Von Bernhard Schulz Berlin stößt seit der Wiedervereinigung und erst recht seit der Hauptstadtwerdung auf enormes publizistisches Interesse. Nicht selten stammen die fundierteren Beiträge dabei von ausländischen Autoren.

Von Bernhard Schulz

Berlin stößt seit der Wiedervereinigung und erst recht seit der Hauptstadtwerdung auf enormes publizistisches Interesse. Nicht selten stammen die fundierteren Beiträge dabei von ausländischen Autoren. Man denke nur an die Bücher von Michael Z. Wise, „Capital Dilemma“, oder des American-Academy-Stipendiaten Brian Ladd, „The Ghosts of Berlin“. Zumindest ist die Perspektive dieser Untersuchungen weiter gespannt als bei den meisten deutschen Autoren. Aus Frankreich kommt jetzt ein neuerlicher Beleg für diese Beobachtung. Boris Grésillon legt das Buch „Berlin métropole culturelle“ vor, das den Sonderweg berlinois in vierlei Facetten untersucht.

Grésillon, von Haus aus Geograf, beginnt mit der Beobachtung, dass die Stadt, urbanistisch gesehen, „rund um den Tiergarten organisiert“ zu sein scheint. Das ist durchaus metaphorisch zu verstehen: In der Mitte klafft tatsächlich eine (grüne) Lücke. Überhaupt wird Berlin eher durch seine terrains vagues et vierges, seine unbestimmten und jungfräulichen Flächen charakterisiert. Die paradoxe Situation bleibt bei erweiterter Sicht erhalten, steht doch Berlin mit seiner Millionenpopulation an der Spitze einer dünn besiedelten und armen Region. Und schließlich liegt die Stadt am Rande des heutigen Deutschland, nur 70 Kilometer von der polnischen Grenze entfernt.

Grésillon, der lange Zeit in der Stadt gelebt hat, beschreibt Berlins Lage als ein „Zwischendrin“, und als Franzose kann er sich über die ständig wiederkehrenden Brüche, Verwerfungen und Neuanfänge nur wundern. Aber das Buch handelt nicht in erster Linie von der oft genug erzählten Stadtgeschichte. Der Autor zielt auf eine Géographie culturelle, er sucht die Geschichte in ihren wechselnden Schauplätzen aufzuspüren und die historisch wechselnden Muster kultureller Interaktion im Gewebe der Stadt nachzuzeichnen.

Für die Gegenwart hat der Autor eine Fülle von Fakten zusammengetragen, die er in zahlreichen Karten auch optisch vermittelt. Der Spannbreite des kulturellen Lebens mit seinem Schwerpunkt auf der gegenwärtigen künstlerischen Produktion korrespondiert eine inhomogene Verteilung der entsprechenden Orte über die Stadt. Der Wanderungsbewegung beispielsweise der Künstler und ihrer Galerien vom Westen nach Mitte steht die beharrliche Ost-West-Trennung der Orchester und vor allem ihres Publikums gegenüber. Grésillon hat einen wachen Blick für die unterschiedlichen Bewegungen von „Hoch-“ und „Off-Kultur“; aus der historischen Mitte, die nach 1990 den Brennpunkt der kulturellen Neuausrichtung bildete, hat sich für die Off-Szene längst nicht nur Prenzlauer Berg, sondern mittlerweile auch Friedrichshain ausdifferenziert, während um den Potsdamer Platz ein neues Zentrum kommerzieller Kultur geschaffen wurde, das wiederum auf den historischen Ursprungsort der Kommerzkultur rund um die Friedrichstraße verweist. Dix ans après, la polycentralité réinventée: Ein Jahrzehnt nach dem Mauerfall hat Berlin seine historische Polyzentralität wiedergewonnen. Aber diese kulturelle Struktur bleibt eingeschlossen in den übergreifenden Zusammenhang einer noch immer getrennten Doppelstadt, für die Grésillon die Formel une ville, deux mondes prägt: eine Stadt, zwei Welten.

Kann Berlin als kulturelle Metropole im französischen Sinne gelten? Dem an den Pariser Zentralismus gewöhnten Autor sticht die Besonderheit Berlins deutlich ins Auge, innerhalb Deutschlands mitnichten als Kulturhauptstadt Wertschätzung zu genießen, während es international durchaus auf einer Ebene mit Paris, London oder gar New York wahrgenommen werde. Grésillon untermauert seine Beobachtung mit reichhaltigem Zahlenmaterial, so dass sein Buch über seinen gedanklichen Anspruch hinaus eine wahre Fundgrube für Zahlen, Fakten und Statistiken darstellt. Ohnehin beeindruckt eine Kenntnis der kulturpolitischen Vorgänge, wie sie sich in vergleichbarer Genauigkeit in kaum einem deutschen Buch findet. In jeder Hinsicht also ist Boris Grésillons Studie eine baldige deutsche Übersetzung zu wünschen. Der Blick von außen kann den Blick von innen nur schärfen.

Boris Grésillon: Berlin métropole culturelle. Editions Belin, Paris 2002. 352 S., 19,80 €.

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