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Kultur: Wenn die Justiz sich irrt

Falsche Geständnisse, falsche Zeugen: Thomas Darnstädt über unschuldig Verurteilte in Deutschland.

Thomas Darnstädt, Jurist und langjähriger Mitarbeiter des „Spiegel“, befasst sich in seinem soeben erschienen Buch mit Fehlurteilen der Justiz. Dass es diese gibt, werden viele erfahrene Strafjuristen sogleich einräumen und dabei an Freisprüche denken. Doch der Titel – „Der Richter und sein Opfer“ – verrät bereits, dass sich Darnstädt mit der Verurteilung Unschuldiger befasst, zu der es nach allgemeiner Auffassung nur in wenigen, wenn auch tragischen Einzelfällen kommt.

Demgegenüber hat ein Richter am Bundesgerichtshof 2011 in einem Kommentar zur Strafprozessordnung die Behauptung aufgestellt, dass jede vierte Verurteilung in Strafsachen ein Fehlurteil sei. Das ist für Darnstädt der Ausgangspunkt seiner Betrachtung. Er schildert anschaulich und dramatisch einschlägige Fälle, ohne jedoch in Sensationslust und Polemik zu verfallen. Ob seine Bewertungen im Einzelnen zutreffen, vermag der Rezensent nicht zu beurteilen, doch mit der Analyse der Fehlerquellen liegt Darnstädt richtig: Sie bestehen unter anderem darin, dass falsche Zeugenaussagen und Geständnisse nicht als solche erkannt werden. Was die Würdigung der Angaben eines erwachsenen Zeugen oder Angeklagten betrifft, ist dies nach Auffassung des Bundesgerichtshofs „ureigenste Aufgabe“ des Strafrichters, der danach in der Regel nicht der Hilfe eines Sachverständigen bedarf. Doch die Vermittlung einschlägiger Erkenntnisse der Psychowissenschaften gehört nicht zur Juristen-Ausbildung und selbst für die besondere Tätigkeit als Strafrichter oder Staatsanwalt sind solche Kenntnissse keine Voraussetzung.

Vor allem intellektuell minderbemittelte Beschuldigte neigen zum Beispiel dazu, sich mit einem falschen Geständnis eines als unerträglich empfundenen Vernehmungsdrucks zu entledigen, den die Polizei auch unter Vermeidung „unerlaubter Vernehmungsmethoden“ zu erzeugen vermag. Vor allem in spektakulären Fällen mit hohem Erwartungsdruck der Öffentlichkeit kann es passieren, dass die Polizei bereits mit einem derartigen Geständnis die Tat als aufgeklärt behandelt. Hohe Aufklärungsquoten, die die Landesinnenminister stets wie eine Monstranz vor sich herzutragen pflegen, gelten als Qualitätsmerkmal polizeilicher Arbeit – obwohl darunter durchaus zahlreiche Fälle sind, die die Staatsanwaltschaft später mangels „hinreichenden Tatverdachts“ einstellen wird. Der Staatsanwalt ist in Deutschland nämlich nicht nur wie die Polizei an „Recht und Gesetz“ gebunden, sondern darüber hinaus wie der Strafrichter der „Wahrheit und Gerechtigkeit“ verpflichtet; er hat traditionell die Aufgabe, als „Wächter des Gesetzes“ die Polizei zu kontrollieren, wie er selbst vom Richter kontrolliert wird, dessen Kontrolle Aufgabe des gerichtlichen Instanzenzugs ist.

Gleichwohl können falsche polizeiliche Geständnisse langlebig sein, was auch damit zusammenhängt, dass der Staatsanwalt seine ihm im 19. Jahrhundert übertragene Kontrollfunktion als „Herr des Ermittlungsverfahrens“ nicht mehr umfassend wahrzunehmen vermag. Zu Recht weist Darnstädt darauf hin, dass die Polizei im Ermittlungsverfahren längst ein faktisches Übergewicht erlangt hat und zudem allein ihr Budget das der Justiz insgesamt als „billigste Staatsgewalt“ mehrfach übersteigt.

Fazit: Nicht nur der erste rechtsstaatliche Filter bei der Strafverfolgung kann zu durchlässig sein, sondern auch der zweite, wenn eben dem Gericht die zur Würdigung von Aussagen erforderliche Sachkunde fehlt. Mit Fehlurteilen, die Freisprüche beinhalten, vermag vor allem die Polizei schwer zu leben, solche, die einen Unschuldigen ins Gefängnis bringen, sind hingegen nicht nur für das Opfer, sondern auch für eine rechtsstaatliche Justiz eine Katastrophe. Daher verdient Darnstädt Anerkennung, dass er die Öffentlichkeit auf die Fehlerquellen aufmerksam macht.

Der Autor ist Generalstaatsanwalt des Landes Brandenburg.









– Thomas Darnstädt:
Der Richter und sein Opfer. Wenn die Justiz sich irrt. Piper Verlag, München 2013. 352 Seiten, 19,99 Euro.

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