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Schatten der Vergangenheit. Der junge Wajdi Mouawad.

© Theater

MeToo an Pariser Bühnen: Wenn die Premiere vor wütenden Demonstranten gerettet werden muss

Wajdi Mouawad zeigt „Mère“ am Théâtre de la Colline, trotz heftiger Proteste gegen seinen Komponisten und einen Regisseur. Beide werden wegen sexueller Gewalt beschuldigt.

„Cantat ist ein Mörder und Mouawad sein Komplize“, rufen junge Frauen vor dem Théâtre de la Colline. Den Haupteingang zum Nationaltheater haben sie mit einem Ringschloss versperrt und versuchen, von Polizeikräften umringt, nun auch, den Nebeneingang zu blockieren.

Schon Wochen vor der Uraufführung seines neuen autobiographischen Stücks „Mère“ war der frankolibanesische Autor und Theaterregisseur Wajdi Mouawad in die Schlagzeilen geraten. Feministinnen werfen ihm das Engagement des ehemaligen Noir-Désir Sängers Bertrand Cantat vor. 2003 hatte der unter Drogeneinfluss im Streit seine Freundin Marie Trintignant so hart attackiert, dass sie starb. Totschlag hatte das Gericht befunden und den bekannten Sänger zu acht Jahren Haft verurteilt, von denen er vier absaß.

Nun aber will Colline-Chef Mouawad im kommenden Jahr Jean-Pierre Baro als Gastregisseur engagieren, dem nach einen Vergewaltigungsvorwurf entlassenen Chef eines bedeutenden Banlieuetheaters. Baros Verfahren wurde eingestellt. Für die Justiz ist der Fall erledigt, für die Kultur hat der Sturm gerade erst begonnen, denn der Kampf der neuen französischen Frauenbewegung gegen Femizide, Vergewaltigung und sexuelle Nötigung ist gerade im Theater virulent.

Auch innerhalb der Belegschaft des Nationaltheaters ist das Engagement Cantats als Komponist und mehr noch das Engagement Baros als Regisseur umstritten. Bei einer Belegschaftsversammlung wurde ein Generationendissens deutlich. Vor allem die Jungen sehen die Projekte kritisch. Die Premiere stand auf dem Spiel. Mit dem, was der Poet und Regisseur Mouawad dann aber auf der Bühne aufführt, hat er sein Publikum überzeugt. Denn seine höchst persönliche, in intime Tiefenschichten führende Arbeit trägt keinerlei Spuren von Provokation.

Mouawad begrüßt sein Publikum mit einem paar netten Worten zur möglichen Störung durch Smartphones und Bonbonpapier. Dann springt er auf die Bühne und wird Teil der Aufführung. Wir sehen auf karger nur mit einer Stellwand ausgerüsteten Bühne eine Exilantin im Dialog mit den Abendnachrichten: Mutter Mouawad, die gebannt die französischen Fernsehmeldungen vom libanesischen Bürgerkrieg verfolgt. Sie werden von der Fernsehjournalistin Christine Ockrent verlesen.

Theater als Selbsttherapie

Jahre nach ihrer Aktivität bei verschiedenen französischen Fernsehanstalten ist der TV-Star leibhaftig auf der Bühne. und hier so etwas wie die Stimme Frankreichs im Haushalt einer emigrierten maronitischen Rumpffamilie im Pariser Exil der 1970er Jahre. Die Mutter, die ältere Tochter und der hier zehnjährige Wajdi sind aus dem Libanon geflohen und warten in einem Appartement des 15. Arrondissements in Paris auf eine Verbesserung der Lage. In ein paar Wochen können sie zurück, davon ist die Mutter überzeugt.

Aber aus den Wochen werden Monate, schließlich Jahre. Durch die oft gestörten Telephonleitungen kommen Todesmeldungen von Angehörigen, aus dem Fernsehen kommen Bilder der Zerstörung des Beiruter Viertels der Familie, aus dem Off kommt Bertrand Cantats Kriegssoundtrack: Seine raue, an Jim Morrison erinnernde Stimme mischt sich in lang gehaltenen Lauten mit dem Heulen der Sirenen und dem Pfeifen der Granaten.

Wajdi Mouawad schiebt Zeitebenen ineinander, fordert von seiner Mutter im Namen des kleinen Jungen auf der Bühne Zärtlichkeit, die ihm selbst gefehlt hatte. und dankt ihr als heute erfolgreicher. Er bilanziert: Mein Glück von heute wurzelt auf meinem Leid als Kind. Das ist Theater als Selbsttherapie, als Kriegsaustreibung und der Versuch einer unmöglichen Versöhnung.

Gegen bösartige Politik hilft nur die Poesie

Wenige Kilometer weiter östlich ist das seit Jahrzehnten eine ästhetische Praxis: am Théâtre du Soleil. Deren Patronin Ariane Mnouckine bereiste in den 1960er Jahren Asien, bevor sie aus ihren Beobachtungen ihren Sonnenstil zusammenschmiedete. Im Frühjahr 2020 wollte sie mit ihrem Ensemble zu einer Recherchereise aufbrechen. Ziel war die Insel Sado, in der sich wie in einem Brennglas die japanische Kultur spiegelt. Das Coronavirus hat diese Pläne vereitelt. Ihre neue Arbeit „L'île d'Or“ ist nun eine trotzige Theaterbehauptung gegen die Pandemie, die Utopie einer Rückkehr der Welt auf die Bretter des Theaters.

Zunächst ein weiter Raum, ein Bett, eine kranke Frau, die sich unter Schmerzen windet. Und ein schwarz gekleideter Helfer, der das Krankenbett schwungvoll durch den Raum schiebt. Man weiß nicht, ob alles, was nun folgt, nur der Fiebertraum einer kranken Cordelia ist, die Erfindung einer Autorin, die die ganze Welt imaginieren kann, vielleicht um eines Tages an ihr zu genesen, zuerst aber wohl eher, um unter ihren Zumutungen fast erdrückt zu werden.

Man mag es kaum für möglich halten, aber das Théâtre du Soleil kann immer noch das Böse und das Gute klar voreinander unterscheiden: Vertreter der kranken politischen Kultur sind zwei Herren, die auf der idyllischen Inseln ein Bauprojekt ins Auge fassen, ein Projekt für Inseltourismus der banalsten Sorte. Der Direktor einer französischen Hotelkette gehört auch zu diesen KulturvernichternGeg, denen sich aufrechte Frauen entgegenstellen. An ihrer Spitze eine Bürgermeisterin, die auf der von ihr regierten Insel ein internationales Theaterfestival plant.

Immer wieder erlebt das Publikum in der Inszenierung der nun 82-jährigen Theaterprinzipalin Momente der Magie und staunt über die merkwürdig verdrehte Syntax der Rede, die das Objekt kunstwillig an den Satzanfang stellt und damit das vertraute Französisch in eine entfernte Märchensprache verwandelt. Leitmetapher der locker verbundenen Szenen um Weltprobleme verschiedenster Art ist die Pandemie, die Unsicherheit und das Unverständnis, das sie unter den Menschen säht. Indien und Japan: Gegen eine bösartig mutierte Politik helfen nur Poesie, Utopie und die Theaterformen, die Mnouchkine als junge Künstlerin kennenlernte.

Eberhard Spreng

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