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Kultur: Wer hoch singt, wird tief fallen. Harmonische Töne unter der musikalischen Leitung von Jiri Kout zum Sängerfest

Zwei weit aufgerissene Augen starren ins Halbdunkel, ruckartig bewegt sich der Kopf, wie von einem Geräusch angezogen. Knarren die Stufen im Treppenhaus?

Zwei weit aufgerissene Augen starren ins Halbdunkel, ruckartig bewegt sich der Kopf, wie von einem Geräusch angezogen. Knarren die Stufen im Treppenhaus? Öffnet sich die Haustür? Wird er noch rechtzeitig kommen? Violetta Valery, einst die teuerste Kurtisane von Paris, ringt mit dem Tod. Dass sie Alfredo, den einzigen Mann, den sie je wirklich liebte, verlassen musste, weil sein Vater die Liaison für gesellschaftlich unakzeptabel hielt, und dass dieser Alfredo sie daraufhin, blind vor Eifersucht, in der Öffentlichkeit als Hure demütigte, hat ihren zerbrechlichen Körper endgültig zerstört. Vom Fieber geschüttelt, ersehnt die Schwindsüchtige nur noch eins: den über die wahren Beweggründe ihres Handelns aufgeklärten Alfredo wiederzusehen, so wie es ihr ein Brief des Vaters verspricht.

Giuseppe Verdi hat für diese Szene in seiner siebzehnten, 1853 in Venedig uraufgeführten Oper "La Traviata" eine genial einfache, zutiefst menschliche Musik geschrieben. Und Cristina Gallardo-Domas singt sie in der Deutschen Oper Berlin jetzt genau so bewegend, wie der Komponist sie erdacht hat: mit jener Mischung aus vollendeter Stimmbeherrschung und hundertprozentiger Rollenidentifikation, die den Belcanto vom puren Schöngesang zum vokalen inneren Monolog erhebt. Alle Gefühle, die, sich schmerzlich überlagernd, in Violettas Seele widerstreiten, kann diese Melodielinie gleichzeitig erfassen. Deshalb ist der mörderisch schwere Sprung in die höchste Sopranlage am Schluss des "Addio del passato" keine Koketterie, sondern die kunstvoll sublimierte Form des erstickten Schreis, der sich Violettas Kehle entringt.

Und Cristina Gallardo-Domas singt ihn so, dass den Zuhörern der Atem stockt: Die chilenische Sopranistin, die seit ihrem Debut 1990 weltweit Furore macht, gehört zu den wenigen Sängerinnen, deren bloßes Erscheinen auf der Bühne genügt, um alle Blicke auf sich zu ziehen. Denn Cristina Gallardo-Domas riskiert sängerisch immer alles, gibt sich bedingungslos der Musik hin. Gerade in dieser Rolle, deren technische Schwierigkeiten viele Sängerinnen dazu verleiten, die Violetta sicherheitshalber als Kurtisane ohne Unterleib zu singen, geht sie ununterbrochen an ihre Grenzen, wechselt vom schärfsten, wildesten Forte zu den zerbrechlichsten, gehauchten Pianissimi. So ähnlich dürfen sich all jene, die Maria Callas niemals live erleben durften, wohl die Atmosphäre ihrer Auftritte vorstellen. Doch während die Callas jeden neben sich zum Stichwortgeber zusammenschrumpfen ließ, bezieht Cristina Gallardo-Domas ihre Mitspieler ein, sieht sich als primadonna inter pares.

Allein im Duett mit Alfredos unerbittlichem Vater hängt sie Lado Ataneli ab, wenn sie einen derart jenseitigen Schatten auf ihre Stimme legt, dass der Heldenbariton keine Chance hat, mit seinem prachtvollen, aber recht eindimensional geführten Riesenorgan auch nur annähernd auf diesem Niveau der Zwischentöne mitzuhalten. Marcelo Alvarez dagegen gelingt die vokale Synthese mit seiner Partnerin. Nicht nur optisch ist der Argentinier, der bis vor wenigen Jahren noch in einer Möbelfabrik arbeitete, der ideale Alfredo: ein jungenhafter, leicht tapsig wirkender Typ, dessen Stimme verrät, dass seine Sturm-und-Drang-Zeit gerade erst angefangen hat. Was ihm an Erfahrung fehlt, macht er durch Überschwang wett. Gerade das fasziniert im Stück die reife, erfahrene Lebedame am Beziehungs-Greenhorn Alfredo - und Marcelo Alvarez hat genau den richtigen Ton dafür. Wenn er in Gesellschaft den Draufgänger mimt, strotz sein Tenor bis in die sensationell mühelose Höhe vor Machismo. Ist er aber mit ihr allein, weicht sein Applaus herausforderndes Strahlen einer betörend geschmeidigen Sensibilität.

Es sind diese beiden Star-Stimmen, die den Abend zum Ereignis machen, darüber macht sich der Dirigent Jiri Kout keine Illusionen: mit dem glücklich vom Kampf um Privilegien zur Kunst zurückgekehrten Orchester der Deutschen Oper beschränkt er sich folglich auf die Rolle des dezenten Begleiters, sorgt in den Ensembleszenen für Tempo und animiert ansonsten die höchst konzentrierten Musiker zu instrumentaler Zartheit, wann immer die Protagonisten zu ihren Arien ansetzen.

Eine Zurückhaltung, zu der sich der inszenierende Hausherr Götz Friedrich nicht entschließen mochte: Immer wieder versucht er, mit plakativen "Regieeinfällen" die Aufmerksamkeit von den Sängern abzulenken. Sei es, dass Alfredos Vater sein blondbezopftes Töchterchen zum Besuch bei Violetta mitbringt - um sie dann einfach draußen herumstehen zu lassen -, sei es, dass Statisten während der Arien mehrfach Türen auf- oder zuklappen müssen, damit der Zuschauer auch ohne Blick auf die gut gemachten Übertitel garantiert kapiert, wann sich für die Protagonisten Fluchtwege öffnen oder Perspektiven verschließen. Diese Obsession, eventuelle Ritzen in der Dramaturgie mit optischer Füllmasse zuzuspachteln, beanspruchte den Regisseur offensichtlich so sehr, dass ihm kaum Zeit blieb für die Arbeit mit den Sängern. Während Cristina Gallardo-Domas oder auch die anrührend sorgengebeugte Andion Fernandez als treue Dienerin Annina in der Lage sind, Emotionen überzeugend umzusetzen, stehen die Personen zumeist hilflos herum oder verfallen in stereotype Sängergesten.

Ratlos lassen auch das schwarze Einheitsbühnenbild (Frank Philipp Schlößmann) und die vorzugsweise mit der Farbkombination Rosa/Rot arbeitenden Kostüme (Klaus Bruns): Soll die Handlung tatsächlich in den achtziger Jahren unseres Jahrhunderts spielen, oder gerät an diesem Haus inzwischen selbst das zeitgenössisch Gemeinte so, als wäre es in den großen Zeiten seines zweifellos bedeutenden und verdienstvollen Chefregisseurs entstanden?

Es steht zu befürchten, dass dieses schon bei der Premiere verstaubt wirkende Regietheater alten Stils zu einer schweren Hypothek für die neue "Traviata" wird, sobald die sensationelle Premierenbesetzung vom Programmzettel verschwunden sein wird.In dieser Besetzung noch am 23. und 25.November sowie am 2., 5. und 7. Dezember.

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