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Soziale Ungerechtigkeit: Wer rettet die Globalisierung?

Die Angst vor der sozialen Spaltung prägt längst die Debatte in beinahe allen Wohlstandsländern. Das wird nirgendwo deutlicher als in den Vereinigten Staaten.

Auf Fragen zur wachsenden Kluft zwischen Arm und Reich reagieren Mitglieder der deutschen Wirtschaftselite zumeist ungehalten. Dann erwecken sie gerne den Eindruck, die Debatte über exorbitante Managergehälter, Superrenditen und Löhne, die nicht zum Leben reichen, sei Ausdruck deutscher Mentalität, einer Art Hinterwäldlertum der rückständigen Teutonen, die immer noch nicht begriffen haben, wie es in der Welt zugeht.

„Wir hier in Deutschland schauen immer nur auf die Verteilung“, beklagte etwa kürzlich Deutsche Bank-Chef Josef Ackermann. Wichtig sei aber „ vor allem Leistungsgerechtigkeit“. Auch Matthias Döpfner, der als Chef des Springer-Konzerns gerne den publizistischen Leitwolf der Marktgläubigen spielt, hält die Klage über wachsende Ungerechtigkeit für ein deutsches Problem. „In Deutschland“ werde „nur die Armut verteilt“, sagte er. In Ländern, die „wirklich deregulierend vorgegangen sind“, wachse dagegen der Wohlstand. Insofern habe sich „das angloamerikanische Modell als überlegen erwiesen.“

Derlei Bekenntnisse sollen Weltläufigkeit demonstrieren. Tatsächlich enthüllen sie jedoch nur die beschränkte Wahrnehmung ihrer Urheber. Denn die Angst vor der sozialen Spaltung prägt längst in beinahe allen Wohlstandsländern die politische Debatte, auch und gerade in den angelsächsischen Staaten.

Es gehe nicht an, dass auf Dauer „aller Gewinn aus der Globalisierung an die Kapitalbesitzer geht, während die Einkommen der Arbeiter und Angestellten bestenfalls stagnieren“, warnte etwa Stephen Roach, der Chef-Ökonom der Wall-Street-Bank Morgan Stanley schon vergangenes Jahr die versammelte globale Konzernelite beim Weltwirtschaftsforum in Davos. Eine „mächtige kosmopolitische Klasse“ häufe enorme Reichtümer an, während „die vielen Menschen, die zurückbleiben, unter immer größeren Druck geraten“, mahnte dort auch der US-Ökonom Robert Shiller, der mit seinen Finanzmarktprognosen zu Weltruhm gelangte. Und selbst Ben Bernanke, Präsident der amerikanischen Notenbank und als solcher der amtierende Erzengel des amerikanischen Kapitalismus, sah sich zu der Mahnung genötigt, es sei Aufgabe der Politik, dafür zu sorgen, „dass die Früchte der globalen Integration ausreichend weit verteilt werden“.

Dass sich ausgerechnet solche Vordenker des Marktliberalismus um die wachsende Ungleichheit sorgen, ist nicht einem plötzlich erwachenden sozialen Gemeinsinn geschuldet. Dahinter steht vielmehr die Furcht, dass die politischen Folgen außer Kontrolle geraten könnten. So formulierten die Autoren der Zusammenfassung des Davoser Treffens ganz unmissverständlich, „die neue Ära“ der Globalisierung habe „dieselben Ungleichheiten“ erzeugt, „die während der Industriellen Revolution den Aufstieg von Nationalismus, Faschismus und Kommunismus nährten.“ Zu fürchten sei nun, „dass solche regressiven Kräfte erneut wachsen könnten.“ Die Furcht ist nur allzu berechtigt. Zwar ist es höchst unwahrscheinlich, dass eine soziale Revolution die Welt erschüttert. Umso größer ist jedoch die Gefahr, dass die Angst vor Verarmung in einem Land nach dem anderen eine destruktive Politik hervorbringt, die sich gegen die übrige Welt richtet.

Das wird nirgendwo deutlicher als in den Vereinigten Staaten. Dort hat die marktradikale Gegenreformation der neoliberalen Epoche tiefe Wunden geschlagen. Wohl ist große soziale Ungleichheit für die Amerikaner nichts Neues. Das Heer der „arbeitenden Armen“ wächst dort schon seit dreißig Jahren. Lange Zeit betraf dies jedoch vorrangig die spanischsprachigen Einwanderer und den schlecht ausgebildeten Teil der schwarzen Minderheit, deren Stimme mangels Wahlbeteiligung im US-Politikbetrieb wenig zählt. Aber im laufenden Jahrzehnt hat sich die Lage radikal verschärft. Lohnsenkung und Jobunsicherheit haben nun auch große Teile der weißen Mittelschicht erfasst. Schon seit dem Jahr 2000 hat die schlechter bezahlte Hälfte der Erwerbstätigen Jahr für Jahr weniger Geld zur Verfügung – und das in einer Zeit, da die Volkswirtschaft als Ganzes um mehr als 18 Prozent zulegte. Der gesamte Zuwachs landete bei den ohnehin Privilegierten. Die 300 000 Superreichen, 0,1 Prozent der Bevölkerung, erzielen nun mehr Einkommen, als die 120 Millionen Amerikaner im unteren Drittel der Einkommensskala zusammen – eine Ungleichheit, wie sie zuletzt am Ende der zwanziger Jahre gemessen wurde. Das bizarre Missverhältnis geht einher mit immer höheren Ausgaben für die Ausbildung der Kinder. Beides zusammen erschüttert zusehends die Grundfesten der amerikanischen Identität. Wenn die Flut steigt, steigen mit ihr alle Boote – so lautete die einst vom legendären Präsidenten John F. Kennedy ausgegebene Formel über die allgemeine Teilhabe am wachsenden Wohlstand. Gleichzeitig durften die US-Bürger getrost an den amerikanischen Traum glauben, wonach sich jedermann mittels harter Arbeit aus der Armut befreien kann. Doch diese Grundprinzipien gelten nicht mehr. Die Löhne amerikanischer Männer im Alter zwischen 30 und 40 sind heute, soweit sie zur unteren Hälfe der Einkommensbezieher gehören, niedriger als die Löhne ihrer Väter 30 Jahre zuvor. Den Kindern soll es einmal besser gehen – dieses klassische Lebensziel der Aufsteigergesellschaft ist für viele nur noch Illusion.

Dabei sind die USA nur Spitzenreiter. Derselbe Trend hat die gesamte Gruppe der alten Industrienationen erfasst. Seit 1983 nimmt im Durchschnitt aller in der OECD organisierten 44 Wohlstandsstaaten der Anteil der Arbeitnehmer am Volkseinkommen kontinuierlich ab, während die Kapitaleinkommen stetig anwachsen. Und überall wächst die Unruhe über diese Entwicklung. Dabei erzeugt nicht die Armut selbst den politischen Zündstoff, sondern die Angst davor. Denn wo immer sich die Furcht vor der sozialen Deklassierung ausbreitet, öffnet das der Irrationalität die Türen zur Macht.

Einen Vorgeschmack auf das, was kommen könnte, gibt der amerikanische Wahlkampf. Dort überbieten sich die demokratischen Kandidaten in kritischer Distanzierung von Freihandel und Globalisierung und wettern gegen China, Mexiko und andere Schwellenländer, die als Sündenbock für Amerikas soziale Probleme herhalten müssen. Das spiegelt die Stimmungslage der Wähler. Fast zwei Drittel der Bevölkerung, so ergab eine groß angelegte Umfrage des Wall Street Journal, glauben mittlerweile, die Integration der US-Wirtschaft in die globale Ökonomie sei schlecht, weil es sie einem unfairen Wettbewerb aussetze. Diese Verunsicherung teilen die Amerikaner mit den Bürgern der meisten anderen Wohlstandsstaaten.

Selbst in Deutschland, dessen Unternehmen mehr als in jedem anderen Land der Welt für den Export produzieren, fühlt sich die Mehrheit als Verlierer der Globalisierung. Nicolas Sarkozy, der französische Präsident, erkannte als erster führender EU-Politiker die Chance, aus solchen Ängsten politisches Kapital zu schlagen. Im Wahlkampf um die Präsidentschaft punktete er mit dem Versprechen, gegen das „Sozial- und Umwelt-Dumping“ der asiatischen Produzenten vorzugehen.

Kein Wunder also, dass sich nun auch bei den Gewinnern Alarmstimmung ausbreitet. Zwar hatte alle protektionistische Wahlkampf-Rhetorik bisher noch wenig praktische Folgen. Auch im Jahr 2007 wuchs der Welthandel rasant. Aber wie lange wird das noch so bleiben? Je länger Amerikas politische Klasse dem protektionistischen Reflex ihrer Wähler rhetorisch nachgibt, desto größer wird die Gefahr, dass daraus praktische Politik wird, vor allem wenn eine Rezession Millionen Arbeitslose ins Bodenlose fallen lässt – eben das Szenario, das Pessimisten schon infolge der laufenden Finanzkrise entwerfen.

Gewiss, die Vorstellung, die wachsende Ungleichheit ließe sich mit den Mitteln der Handelspolitik bekämpfen, ist eine gefährliche Illusion. Die globale Vernetzung von Unternehmen und Märkten ist eine Einbahnstraße. Wer die Umkehr versucht, müsste mit einem drastischen Verlust an Wohlstand bezahlen. Aber nun rächt sich, dass Manager und Politiker über Jahre den steten Druck auf Löhne und soziale Absicherung damit rechtfertigten, dies sei nötig, um im internationalen Wettbewerb zu bestehen. Das war zwar fast immer nur ein Vorwand, um Unternehmen und ihren Eigentümern Steuervorteile zu verschaffen oder von der Finanzierung der sozialen Absicherung freizustellen. In der Folge ist aber jetzt tatsächlich der Glaube weit verbreitet, die Globalisierung selbst sei das Problem und nicht deren Gestaltung durch die jeweiligen nationalen oder übernationalen Regeln und Gesetze. Im Krisenfall werden dann alle Mahnungen, dass Abschottung nur schaden würde, wenig nutzen. „Die Amerikaner verschließen die Augen vor der Realität und wollen die Welt anhalten“, beschrieb der Princeton-Ökonom und frühere Vizechef der Notenbank, Alan Blinder, die Stimmung während des Präsidentschafts-Wahlkampfes, „unser Land nähert sich der Gefahrenzone.“

Würden aber kommende US-Regierungen, und in deren Gefolge auch Europäer und Japaner, tatsächlich beginnen, umfassende Handelshürden gegen China, Indien und andere Lieferländer zu errichten, würden die betroffenen Staaten mit gleicher Münze zurückzahlen. Das Ergebnis wären eskalierende Handelskriege und der Zerfall des liberalen Welthandels- und Kapitalregimes. Einmal mehr, so wie vor hundert Jahren, wäre das der Anfang vom Ende der Globalisierung. Auch damals kippte der Trend, weil die Verlierer zur politischen Kraft wurden. „Der Rückschlag ergab sich aus den Verteilungseffekten“, resümierte der britische Wirtschaftshistoriker Kevin O’Rourke seine Forschung über das Scheitern der globalen Integration im 20. Jahrhundert.

Vor diesem Hintergrund überbieten sich nun ausgerechnet Amerikas Ökonomen gegenseitig mit radikalen Vorschlägen für die Umverteilung der Einkommen von oben nach unten. Matthew Slaughter zum Beispiel war über Jahre einer der führenden Architekten der Wirtschaftspolitik der Bush-Regierung. Jetzt plädiert er – in Anspielung auf die Sozialreformen der Regierung des Präsidenten Roosevelt in den dreißiger Jahren – für einen „New Deal zur Rettung der Globalisierung“. Die „üblichen Antworten wie höhere Bildungsausgaben und bessere Hilfen für entlassene Arbeiter“, schrieb Slaughter, „reichen bei weitem nicht aus“. Gebraucht werde eine Reform, die „aggressiv Einkommen umverteilt“. Sein Kollege Shiller wagte gar die Forderung, Einkommensteuern für Besserverdiener sollten parallel mit der ungleichen Verteilung anwachsen. „Die Finanzbehörden würden jedes Jahr die Steuern so berechnen, dass ein bestimmtes Maß an Ungleichheit nicht überschritten wird“, lautet seine Formel.

„Die politische Balance schwingt zurück“, befand darum jüngst der amerikanische Soziologe Immanuel Wallerstein. Die Frage sei nicht mehr, ob die Phase der neoliberalen Globalisierung zu Ende gehe, sondern nur, ob der kommende politische Richtungswechsel ausreichen werde, ein stabiles „Gleichgewicht im Weltsystem wieder herzustellen.“ Behält der Altmeister der Systemtheorie Recht, dann steht erneut, so wie einst unter Präsident Ronald Reagan und seiner britischen Mitstreiterin Margaret Thatcher, eine säkulare Wende in der globalen Wirtschaftspolitik an. Aber dieses Mal in die andere Richtung.

Morgen erscheint das von Harald Schumann und Christiane Grefe verfasste Buch „Der globale Countdown, Gerechtigkeit oder Selbstzerstörung – die Zukunft der Globalisierung“ (Kiepenheuer & Witsch).

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