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Eva und Frank Khatchadourian (Tilda Swinton, John C. Reilly) müssen in "We Need to Talk about Kevin" mit der Tat ihres Sohnes leben.

© Fugu Films

Werkschau der Regisseurin Lynne Ramsay: Poesie eines Salzstreuers

Nur vier Filme, aber mit einer klaren Stimme: Das Kino Arsenal zeigt eine Werkschau der Regisseurin Lynne Ramsay.

Mit beinhartem Hinterhofrealismus in Hollywood landen und unterwegs Joaquin Phoenix einen ausgeprägten Werkzeugfetischismus verpassen. Das muss Lynne Ramsay erst mal jemand nachmachen. Im Zuge des Erfolgs von „A Beautiful Day“, in dem Phoenix mit einem Hammer bewaffnet Jagd auf Mädchenhändler macht, deutete die schottische Regisseurin an, sie wäre nun bereit für die Superheldensagen.

Angefangen hatte alles mit einem Müllabfuhrstreik. Und damit, dass Ramsay ihren gerade erst eingeführten Helden, einen widerborstigen Jungen, schon nach drei Minuten in einer Kloake am Rande einer trostlosen Arbeitersiedlung versenkte. Ramsays Spielfilmdebüt „Ratcatcher“ (1999) zeigt ein Glasgow, das Anfang der 70er am eigenen Mist zu ersticken droht. Sie stellt sich damit in die Tradition des britischen Sozialrealismus, doch Ramsay entwickelt einen mikroskopischen Blick, analytisch und zärtlich, der in banalen Details ungeahnte Poesie entdeckt. In Bierdosen, Küchentischen, Salzstreuern. Später richtet sie diese Aufmerksamkeit auch auf die amerikanische Suburbia und die Unterwelt von New York, voll faszinierender Einsichten.

Ramsay wurde 1969 selbst als Kind einer Arbeiterfamilie in Glasgow geboren. Heute gilt sie als die erfolgreichste Filmemacherin Schottlands, was erst mal nicht viel heißt, und ist eine der großen Stilistinnen ihrer Generation. Dabei ist ihr Œuvre vergleichsweise schmal. Vier Kurz- und vier Langfilme hat Ramsay seit Mitte der 90er Jahre realisiert. Das Arsenal in Berlin zeigt sie nun gebündelt in einer Werkschau.

Kompromisslos in ihrer künstlerischen Vision

Man könnte die Filme anhand der schockierenden Ereignisse verschlagworten, mit denen sie einsetzen: der Tod eines Zwölfjährigen („Ratcatcher“), ein Selbstmord („Morvern Callar“), ein Highschool-Massaker („We Need To Talk About Kevin“). Das klingt nach der Aufarbeitung posttraumatischer Belastungsstörungen. Ganz verkehrt ist das nicht, nur ist damit noch nichts gesagt über die Bildkraft und Eigenart dieser Filme. Ramsay erklärt und psychologisiert nicht, sie zeigt. Bevor sie an die Filmhochschule ging, malte und fotografierte sie, und man sieht ihren Background in jeder Einstellung, auch wenn sie die Kamera meist in fremde Hände gibt. Die Bilder sind oft so elliptisch wie die Erzählweise: versperrte Blickachsen, verweigerte Auflösungen. Ramsay ist eine Regisseurin gegen den einfachen Durchblick.

Bezeichnend ist daher auch, welche Filme sie letztendlich nicht gedreht hat. „Jane Got A Gun“ zum Beispiel, einen Western mit Natalie Portman, von dem Ramsay sich wegen Unstimmigkeiten mit den Produzenten zurückzog. Was man in anderen Filmografien als Misserfolg auslegt oder unter den Teppich kehrt, wirkt bei Ramsay wie ein Ehrenabzeichen: der Beweis für die eher nicht so große Kompromissbereitschaft, wenn es um ihre künstlerische Vision geht.

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Erst neun Jahre nach ihrem zweiten Film drehte sie 2011 „We Need To Talk About Kevin“. Darin muss die von Tilda Swinton gespielte Mutter mit Schuldgefühlen und Schmerz klarkommen, nachdem ihr Sohn mit 15 Jahren zum Massenmörder wurde. Ramsay zerlegt die Romanvorlage in ein assoziatives Psychogramm familiärer Beziehungen. Wie so oft spielt der Ton dabei eine wesentliche Rolle. Einmal bleibt sie, noch als junge Mutter, mit ihrem Vintage-Kinderwagen an einer Kreuzung vor Bauarbeitern mit Presslufthämmern stehen. Das Geschrei des Babys wird für einen Augenblick übertönt. Später gibt es mehr Krach: von Staubsaugern, Rasenmähern, Schleifmaschinen. Innere Zerrüttung und Aggression werden so auch im Kinosaal spürbar.

Ramsays Filme stemmen sich gegen jeden Fatalismus

Das Massaker in „We Need To Talk About Kevin“ wird nur auf der Tonspur angedeutet. Auch in „A Beautiful Day“ erscheint der Werkzeugeinsatz von Joaquin Phoenix nur in den Bildern von Überwachungskameras. Das, was eben nicht oder nur aus der Distanz gezeigt wird, wirkt dadurch in der Einbildungskraft des Publikums umso stärker nach.

Es sind Bilder voll brutaler Zärtlichkeit. Wie die Eröffnungseinstellung in der Romanadaption „Morvern Callar“: Im Wohnzimmer blinkt ein Christbaum aus Plastik und taucht das auf dem Boden liegende Paar alle paar Sekunden in buntes Licht. Der Körper des Mannes ist leblos, Morvern (Samantha Morton) liebkost ihn noch. Erst erzählt sie niemandem vom Selbstmord ihres Freundes, als könne sie ihn selbst nicht wahrhaben. Dann begreift sie ihn als Chance, aus ihrer Routine zwischen Supermarktjob und Abenden im Pub auszubrechen. „It’s just the same crapness everywhere, so stop dreaming“, meint ihre beste Freundin. Gegen diesen Fatalismus stemmen sich Ramsays Filme. In all dem Krach und Gehämmer wird immer wieder auch von Ausbruch geträumt.
Ab dem 12. Oktober im Kino Arsenal

Arno Raffeiner

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